VP-Schulsprecher Werner Amon hatte eine Idee: Warum nicht auf Probleme von heute Antworten von vorgestern geben? Das Chaos beim Übertritt von der Volksschule in die Sekundarstufe, eine Konsequenz der verfrühten Schultypendifferenzierung, ließe sich doch elegant durch eine Zeitreise in jene Epoche lösen, in der die Fundamente der gottgewollten Ordnung noch stabil waren. In der die AHS noch weitgehend „Proleten-frei" war, weil eine Aufnahmeprüfung dieser Schicht den Weg versperrte. In der Bildungsland noch in Bürgerhand war. Schlussfolgerung: Wir brauchen wieder ein formelles Aufnahmeverfahren.

Das war im Jahr 2001. Die Öffentlichkeit reagierte mit teils entsetztem, teils amüsiertem Kopfschütteln, und zwischenzeitlich dachte man schon, die Sache sei gut abgelegt im Archiv jener Eingebungen, auf die wir auch gerne verzichtet hätten. Aber wenn Ideen rar sind, muss man sparsam damit umgehen. Dann werden auch die Rohrkrepierer von gestern recycelt und in frisch aufpolierter Form der politischen Debatte zugeführt. Nun hat sich Amon eine dreiteilige Aufnahmeprozedur für die AHS ausgedacht, bei dem neben der Berücksichtigung der Volksschulnoten auch ein „Prognoseverfahren" auf der Basis „wissenschaftlicher und entwicklungspädagogischer Standards" stattfindet. Was dürfen wir uns darunter vorstellen? Amon denkt an ein „amikales Gespräch" zwischen Eltern, Lehrern und Kind.

Die Ergebnisse dieser „wissenschaftlichen Prognostik" lassen sich zuverlässig prognostizieren: Gestärkt wird, was die Soziologen „sekundäre Herkunftseffekte" nennen: Die Bildungsschichten schätzen die Erfolgsaussichten ihrer Sprösslinge immer höher ein, als Eltern, die selbst über keine höhere Bildung verfügen. Und zwar selbst dann, wenn die Noten oder Testwerte des gehobenen Nachwuchses schlechter sind. Das findet auch jetzt statt, aber Amon will diesen Prozess bekräftigen und ihm die Aura eines gesicherten Prognoseverfahrens verleihen. Und ausgerechnet damit will er die soziale Selektion beim Übertritt in die AHS verhindern. Das erinnert an die neoliberale Variante der Armutsbekämpfung, wie sie vor Obama in den USA praktiziert wurde: mehr soziale Gerechtigkeit durch Steuersenkungen für die Reichen.

Vorläufig letzter Akt der intellektuellen Selbstentblößung des ÖVP-Schulsprechers: Er vergleicht sein Prognosebrimborium, das über individuelle Lebensschicksale entscheiden soll, mit Leistungsvergleichen à la Pisa, die auf Stichprobenbasis Aussagen über eine gesamte Alterskohorte machen. Wer für Letztere eintrete, dürfe sich auch Ersterem nicht verweigern. Genau. Wer nichts gegen Meinungsumfragen einzuwenden hat, muss doch auch mit individueller Bespitzelung einverstanden sein.

Einen Fan hat Amon schon. Die AHS-Gewerkschafterin Eva Scholik überschlägt sich vor Begeisterung. Was niemand ahnen konnte: Diese Frau ist lernfähig. Wie oft musste sie sich anhören, die von ihr geleitete Gewerkschaft vertrete eine strukturkonservative Politik. Diese Wendung hat sie aufgegriffen und bezeichnet nun jene als „strukturkonservativ", die Amons Retro-Idee ablehnen. Alle Achtung! Der nächste Lernschritt besteht jetzt aber darin, die Bedeutung dieses Begriffs zu verstehen.

Auch dem letzten Hinterbänkler der ÖVP ist klar, dass dieser Vorschlag keine Realisierungschance hat. Aber darum geht es gar nicht. Es geht um ideologische Kriegsführung. Die nach dem Lehrerkonflikt angeschlagene Bildungsministerin soll weiter geschwächt, ihr soll die Themenführerschaft entrissen werden. Lösen kann man mit dieser Haltung nichts, wohl aber verhindern, wenigstens verschleppen: jene Strukturreformen, die das Chaos beim Übertritt in die Sekundarstufe wirklich beseitigen könnten. Und so wird jener unerquickliche Schwebezustand prolongiert, der die Bildungspolitik nun schon seit Jahrzehnten lähmt. Zurück - ins Zeitalter vor der Bildungsexpansion - können wir nicht (außer in den Wunschfantasien von AHS-Gewerkschaftern). Aber nach vorne, in Richtung einer Schulform, die dieser Expansion strukturell Rechnung trägt, dürfen wir auch nicht. Jedenfalls nach Auffassung der Partei, deren Obmann vor zwei Jahren eine „Zukunftskommission" geleitet hat. (Hans Pechar, DER STANDARD, Printausgabe, 22.5.2009)