Karin Lobner (38) ist Ernährungswissenschafterin und im Beirat des Verbands der Ernährungswissenschafter Österreichs (VEÖ). Seit 2007 ist sie mit "gefühlsküche" als selbstständige Beraterin tätig. Lobner hat in Wien studiert, leitet ein Adipositas-Projekt im Verein "Gesundes Niederösterreich" und hat sich auf adipöse Kinder und Jugendliche spezialisiert. Sie lebt in Wien. (pok)

Axel Philipps (34) ist Soziologe an der Leibniz-Universität in Hannover. Ein Forschungsschwerpunkt ist die Soziologie des Essens. Aktuell ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter in einem Projekt zum Thema Adipositas bei Kindern und Jugendlichen tätig und beschäftigt sich mit Fragen und Strategien zur Prävention von Fettleibigkeit. Philipps lebt in Hannover und Leipzig.

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STANDARD: Laut österreichischem Ernährungsbericht haben 42 Prozent der 18- bis 65-Jährigen Übergewicht, elf Prozent davon Adipositas, die Fettsucht. Woran liegt es?

Philipps: Es gibt eine Reihe von Erklärungsansätzen, die von den Genen bis zum sozialen Umfeld als Ursache reichen. Eine gängige These lautet: Die Menschen essen zu fett und zu süß, liefern so dem Körper viel Energie, die er aber gar nicht braucht, weil man sich in der modernen Gesellschaft immer weniger bewegt, insofern also eine Art der Degenerierung.

Lobner: Das Problem von Übergewicht und Adipositas ist multikausal und deshalb auch eine große Herausforderung für die Gesellschaft. Essverhalten, Familiengewohnheiten, psychische Faktoren, das Nahrungsüberangebot, seine Vermarktung, aber auch individuelle körperliche Voraussetzungen stehen in einer komplizierten Wechselwirkung.

STANDARD: Ist Adipositas eine Krankheit?

Philipps: Das wird aktuell heftig diskutiert. Man schreibt den einzelnen fettleibigen Menschen ja die Schuld an ihrem Zustand selbst zu, so nach dem Motto: Die essen zu viel und bewegen sich nicht. Dadurch werden diese Menschen stark stigmatisiert. Würde Adipositas als Krankheit anerkannt, würde sich das Bild ändern.

Lobner: Ich arbeite seit vielen Jahren mit adipösen Menschen und sehe es als chronische Erkrankung. Die Chance, dass diese Menschen jemals wieder normalgewichtig werden, ist relativ gering und kann nur durch breit angelegte Strategien gelingen. Das Erreichen des Normalgewichts ist aber auch nicht das Therapieziel.

STANDARD: Doch am Anfang steht der Hunger?

Lobner: Ja sicher. Hunger ist ein Alarmsignal des Körpers und zeigt an, dass jemand Energie braucht. Das ist ungefähr so wie die Tankanzeige im Auto. Die Gründe für dieses Hungergefühl sind aber vielfältig. Fettleibige Menschen haben oft jedes Sättigungsgefühl verloren. Hunger und Sättigung spüren muss erst wieder gelernt werden.

STANDARD: Warum hat eigentlich niemand Heißhunger auf Karotten?

Lobner: Weil Karotten zu wenig Energie liefern. Wenn der Körper nach Energie schreit, sind energiereiche Nahrungsmittel immer die erste Wahl - das heißt viel Fett und viel Zucker. Außerdem ist ein Schokoriegel immer schneller verfügbar als eine Salatplatte.

Philipps: Hunger, Essen und Übergewicht sind allerdings immer in Beziehung mit sozialen Gegebenheiten zu betrachten. Essen ist viel mehr als nur Kalorienaufnahme, über Essen findet beispielsweise auch Sozialisierung und Erziehung statt, und das von Anfang des Lebens an. Da Mahlzeiten den Tag strukturieren, beim Essen miteinander kommuniziert und Essverhalten weitergegeben wird, wird dadurch eine gesellschaftliche Wirklichkeit erzeugt. Damit verbunden sind Regeln, die auch in der Wahl oder dem Verzicht bestimmter Lebensmittel bestehen.

Lobner: Die Essensauswahl in der Familie ist geschmacksbildend. Je größer die Lebensmittelauswahl zu Hause ist, umso breiter ist das Angebot an Geschmacksbildung, und umso leichter ist es, eines Tages Gewicht zu halten.

Philipps: Wobei das nicht nur eine Frage der Auswahl ist. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat gezeigt, dass jede soziale Klasse ihre geschmacklichen Vorlieben hat. So würden die unteren sozialen Schichten sättigende Kost bevorzugen, während die oberen auf Qualität vor Quantität setzen. Dadurch findet über Essen soziale Abgrenzung statt. Denken Sie nur an Bioprodukte. Wer sich dafür entscheidet, setzt ein Zeichen für eine bestimmte Haltung.

Lobner: Weil Essen auch ein Signal ist. Über das Essen sage ich, wo ich hingehöre, was ich mir leiste und gut finde. Es hat Symbolwert.

STANDARD: Welchen Konnex gibt es zwischen Adipositas und sozialer Zugehörigkeit?

Philipps: Verschiedene Studien belegen, dass Adipositas gehäuft in unteren sozialen Lagen der Gesellschaft auftritt. Nicht alle Studien kommen aber zu diesem Ergebnis. Unsere eigenen Untersuchungen legen zumindest die These nahe, dass stark übergewichtige Kinder teilweise in Elternhäusern leben, die kaum gefestigte Strukturen im Alltag aufweisen.

STANDARD: Beeinflusst Wissen über Nahrungsmittel das Essverhalten?

Lobner: Es ist einer von vielen Faktoren. Wer einmal erkannt hat, dass Dicksein ein Problem ist, und es verändern will, der sollte wissen, welche Nahrungsmittel wie viel Energie enthalten und dass beispielsweise Wasser besser als Eistee ist. Es ist die Basis, um das Problem lösen zu können.

STANDARD: Deshalb funktionieren auch Diäten nicht?

Lobner: Genau. Essen ist etwas sehr Emotionales, das nur bedingt intellektuell gesteuert werden kann. Mit Essen verbindet jeder Mensch Wohlgefühl, Lust, aber auch Erinnerungen. Oft ist es auch eine Kombination, denken Sie an die Schokolade von den Großeltern. Wer abnehmen will, muss sich also noch vor einer Ernährungsumstellung neue Belohnungsmuster überlegen. Denn wer in der Diät auf bestimmte Nahrungsmittel verzichten muss, weil sie zu viele Kalorien haben, bringt sich dann nicht energetisch, sondern auch emotional in den Minusbereich.

Philipps: Das ist aber nur eine Facette. Durch den Verzicht eines Lebensmittels kann man die soziale Gruppe, der man angehört, auch vor den Kopf stoßen. Denken Sie an den traditionellen Sonntagsbraten, der in vielen Familien Symbol für Festlichkeit und Beisammensein ist. Wenn ein Mitglied dieser Familie Vegetarier wird, kann diese Haltung hinsichtlich des Sonntagsessens von den anderen Familienmitgliedern als Ablehnung der Gruppe gedeutet werden. Nach dem Motto: Denkt er, er ist etwas Besseres?

Lobner: Dieses Problem ist besonders schwierig in Familien, in denen Emotionen stark über das Essen zum Ausdruck gebracht werden. Oft wird das eigene emotionale Defizit der Eltern durch Essen kompensiert und so an die Kinder weitergegeben. Oft ist es anschei-nend leichter, Kinder mit Essen zu versorgen als mit Gefühlen, vor allem dann, wenn man selbst wenig bekommen hat. Deshalb stoßen Kinder, die das Essen ihrer Eltern ablehnen, oft auf Unverständnis, abgesehen davon erleben es Eltern als Ablehnung und Kränkung.

STANDARD: Übergewicht ist gerade bei Kindern ein großes Problem.

Lobner: Jeder fünfte Bub und jedes sechste Mädchen in Österreich ist übergewichtig, 50 Prozent davon adipös. Im Vergleich zu Kindern mit Neurodermitis oder Asthma ist ihre Lebensqualität besonders schlecht. Weil Adipositas keine Krankheit ist, gelten sie als selbst schuld.

STANDARD: Wie greifen Therapien?

Lobner: Jede Ernährungsumstellung bei starkem Übergewicht muss eine Kombination aus Ernährungsberatung, Psychotherapie und Bewegung sein. Und langfristige Erfolge gibt es dann, wenn das soziale Umfeld - meist also die Familie - mitmacht und bereit ist, das Leben umzustellen.

Philipps: Damit werden dann nämlich soziale Gefüge verändert, und der Betroffene ist mit seinem Problem nicht mehr allein.

Lobner: Eine Idee wäre, dass bei Kindern Therapie nicht mehr ohne Einbeziehung der Eltern gemacht würde. Dafür müsste Adipositas allerdings erst einmal als Krankheit anerkannt sein, und die Politik müsste entsprechende Mittel für Prävention und Therapie zur Verfügung stellen. (karin Pollack, DER STANDARD, Printausgabe, 25.5.2008)