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Zur Person

Angela Mörixbauer ist Ernährungswissenschafterin und Geschäftsleiterin von eatconsult in Wien.

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derStandard.at: Warum denken Sie lehnen die Chinesen Milch und Milchprodukte traditionell ab?

Mörixbauer: Weil in Asien - genetisch bedingt - mehr als 90 Prozent der erwachsenen Bevölkerung an Laktoseintoleranz (Milchzuckerunverträglichkeit) leiden. Diesen Menschen fehlt das Milchzucker spaltende Enzym, die Laktase, gänzlich oder ist in seiner Aktivität stark eingeschränkt. Die Folge: Der Zweifachzucker Milchzucker kann im Dünndarm nicht in seine Einzelbausteine, Glukose und Galaktose, zerlegt werden und wandert unverdaut in den Dickdarm weiter. Dort verursacht er Durchfall, Blähungen und Bauchschmerzen.

derStandard.at: Ist Milch für Europäer gut?

Mörixbauer: Grundsätzlich ja. In Europa sind entwicklungsgeschichtlich deutlich weniger Erwachsene von Laktoseintoleranz betroffen. Das hängt auch von der Region ab. Je weiter nördlich, desto geringer der Anteil der Laktoseintoleranten. So sind in Skandinavien nur  drei bis acht Prozent der Bevölkerung betroffen, in Österreich 15 bis 20 Prozent und in Mittelmeerländern rund 70 Prozent. In Asien und Afrika betrifft es dagegen über 90 Prozent der Menschen.

Grund für diese Unterschiede ist eine Gen-Mutation. Ursprünglich hat der Mensch keine Milch vertragen, nach dem Säuglingsalter hat die Laktaseaktivität nachgelassen. Irgendwann, vor vielen, vielen Generationen kam es zu einer spontanen Gen-Mutation, so dass bei diesen Menschen die Laktase über das Säuglingsalter hinaus aktiv war. Offenbar bedeutete dies für manche Bevölkerungsgruppen einen Ernährungs- und damit Überlebensvorteil, weil sich diese Gen-Mutation in Europa durchgesetzt hat.

derStandard.at: Die Chinesen sagen Milch verschleimt. Was bedeutet das und was halten Sie von dieser Betrachtungsweise?

Mörixbauer: In naturwissenschaftlichen Studien konnte die Behauptung, Milch verschleime, nicht belegt werden. Dazu gibt es gute Untersuchungen, z. B. solche, die die Sekretmenge bei Schnupfen messen. Hier konnte kein Zusammenhang zwischen der konsumierten Milchmenge und der Schleimproduktion festgestellt werden.

Auch in der TCM gilt Milch grundsätzlich als kostbare Essenz. Sogar therapeutisch wird Kuhmilch bei gewissen Formen von Ulcus, Schlafstörungen oder innerer Unruhe eingesetzt. Nur bei schwachem Verdauungstrakt soll Milch gemieden werden. Damit ist im Grunde eine Milcheiweißallergie oder eine Laktoseintoleranz gemeint.

derStandard.at: Westliche Ernährungswissenschafter empfehlen 2x täglich Milchprodukte zu konsumieren. Können Sie sich dieser Empfehlung denn anschließen?

Mörixbauer: Ja, ich würde sogar zwei bis drei Portionen Milch und Milchprodukte pro Tag empfehlen, weil diese Lebensmittelgruppe bei uns mit Abstand der wichtigste Kalziumlieferant ist. Über die Hälfte des aufgenommenen Kalziums hierzulande stammen aus Milch und Milchprodukten. Als Portion zählt zum Beispiel ein Viertelliter Milch, ein 200-Gramm-Becher Joghurt, 200 Gramm Topfen oder zwei bis drei Scheiben Schnittkäse. Aktuelle österreichische Daten zeigen allerdings, dass in fast keiner Altersgruppe diese Empfehlung erreicht wird und die Kalziumzufuhr zum Teil deutlich unter der Empfehlung liegt.

derStandard.at: Macht es einen Unterschied ob die Milch pasteurisiert ist oder frisch von der Kuh kommt?

Mörixbauer: Milch frisch von der Kuh - Rohmilch - ist hygienisch empfindlicher. Daher gelten strengere Vorgaben für die Abgabe von Rohmilch. Pasteurisierte Milch wurde erhitzt und damit alle eventuell vorhandenen krankmachenden Keime abgetötet. Die heutigen Erhitzungsverfahren in den Molkereien sind deutlich vitaminschonender als das Abkochen zu Hause. Verluste bei relevanten Nährstoffen durch den Pasteurisierungsvorgang sind äußerst gering - bei Kalzium, Vitamin B2 und B12 ist zum Beispeil kein Unterschied zwischen Rohmilch und pasteurisierter Milch feststellbar.

derStandard.at: Die Empfehlung Milch bei Osteoporose zu trinken, kommt daher weil sie ein wichtiger Calciumlieferant ist. Woher beziehen denn die Chinesen diesen wichtigen Mineralstoff?

Mörixbauer: Die asiatische Ernährungsweise beinhaltet - im Vergleich zu unserer - seit jeher deutlich mehr pflanzliche Kalziumlieferanten, wie Kohl, Soja oder Sesam. Dazu kommt, dass in Asien das Ausmaß der Sonnenstunden höher ist als in Westeuropa. Dadurch kann mehr Vitamin D über die Haut gebildet werden, was zusätzlich positiv für den Knochenstoffwechsel ist.

derStandard.at: Lässt es sich auch ohne Milch gut leben oder ist Milch ein lebensnotwendiges Lebensmittel?

Mörixbauer: Ich würde Milch und Milchprodukte in unseren Breiten als sehr, sehr wichtige Bestandteile einer ausgewogenen Kost einordnen. Wer Milch und Milchprodukte gänzlich aus seinem Speiseplan streicht, wird mit ziemlicher Sicherheit ein Kalziumdefizit entwickeln. Eine US-Studie unter Jugendlichen hat festgestellt, dass die Deckung des Ca-Bedarfs in der Gruppe der völligen Milchverweigerer mit den westlichen Ernährungsgewohnheiten praktisch nicht möglich ist. Daher rate ich jenen, die Milch und Milchprodukte völlig meiden - sei es aufgrund einer Aversion oder weil eine echte Milcheiweißallergie vorliegt - verstärkt pflanzliche Kalziumlieferanten, kalziumreiches Mineralwasser (ab 150 mg/l) sowie Kalziumsupplemente in den Speiseplan einzubauen.

derStandard.at: Vertragen Kinder und Erwachsene gleich gut beziehungsweise schlecht?

Mörixbauer: In unseren Breiten ja, mit Ausnahme der erwähnten 15-20 Prozent Erwachsener, die an Laktoseintoleranz leiden. Säuglinge vertragen Milch praktisch immer. Es gibt nur ganz, ganz wenige, die an einer angeborenen Stoffwechselerkrankung (kongenitaler Laktasemangel) leiden und von Geburt an keinen Milchzucker vertragen. Auch die Milcheiweißallergie tritt - glücklicherweise - seltener auf als allgemein vermutet: Im Kindesalter leiden nur zwei bis drei Prozent daran (was für die Betroffenen natürlich schlimm genug ist). In 70 Proent aller Fälle verschwindet aber die Kuhmilcheiweißallergie vor dem sechsten Lebensjahr von alleine wieder. Der Allergiestatus sollte daher in diesem Alter alle ein, zwei Jahre überprüft werden.

derStandard.at: Was tut die Milch im Organismus Gutes?

Mörixbauer: Milch und Milchprodukte sind hierzulande die wichtigste Kalziumquelle und somit für den Knochenstoffwechsel von herausragender Bedeutung. Bis zum Ende der Pubertät bauen Kinder und Jugendliche rund 90 Prozent ihrer Knochenmasse auf und erreichen mit zirka 30 Jahren das Maximum. Zu diesem Zeitpunkt ist die höchste Knochendichte erreicht. Ab der Lebensmitte nimmt die Knochenmasse pro Jahr um ein Prozent ab. Eine kalziumreiche Ernährung kann die Ausgangslage optimieren und Knochenabbauprozesse hintanhalten. 

Milch liefert darüber hinaus wesentliche Mengen des für die Blutbildung wichtigen Vitamin B12. Das ist besonders für Vegetarier bedeutend, weil dieses Vitamin nur in tierischen Lebensmitteln und Sauerkraut vorkommt. Milch ist ein guter Vitamin B2-Lieferant und so für ein funktionierendes Nerven- und Immunsystem relevant. Milch und Milchprodukte tragen auch nennenswert zur Jod-Versorgung bei - ein Mineralstoff, der für die Schilddrüsenfunktion unerlässlich ist.
Das Eiweiß aus der Milch hat eine sehr hohe biologische Wertigkeit. Das bedeutet, dass wir daraus besonders effizient körpereigenes Eiweiß aufbauen können.

In fermentierten Milchprodukten wurden außerdem sogenannte bioaktive Peptide gefunden, die möglicherweise den Blutdruck senken können. Sauermilchprodukte wie Joghurt, Sauermilch, Acidophilus- und Bifidusmilch unterstützen nachweislich die Gesundheit der Darmflora. Die Studienlage zeigt außerdem, dass Milchkonsum insgesamt einen positiven Einfluss auf das metabolische Syndrom zu haben scheint.

derStandard.at: Viele Menschen, die besonders gesund leben wollen, ernähren sich fast ausschließlich von Joghurt und Rohkost. Was halten sie von dieser Kombination?

Mörixbauer: Ich würde diese extreme Ernährungsweise nicht empfehlen. Die Gefahr von Mangelerscheinungen ist groß, weil viele wichtige Nährstofflieferanten wegfallen - Fleisch, Fisch, Eier, Kartoffeln, Getreide - je nach dem, was unter "Rohkost" hier verstanden wird. Man muss schon sehr gut Bescheid wissen, um über die richtige Auswahl der Rohkost alle Nährstoffbedürfnisse des Körpers zu erfüllen. (Marietta Türk, derStandard.at, 29.5.2009)