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Kaum Neubauten, nur eine Lichtinstallation vor der Kathedrale gab es bisher im Kulturhauptstadt-Jahr von Vilnius. Die Altstadt - eine der größten Mittelosteuropas - besitzt ohnehin Ausstrahlung genug.

Foto: AP / Mindaugas Kulbis

Cornelius Hell, geb. 1956 in Salzburg, ist Autor, Übersetzer und Literaturkritiker. Von 1984 bis 1986 war er Lektor für deutsche Sprache und österreichische Literatur an der Universität Vilnius; 2004 erhielt er den Übersetzerpreis des litauischen Lyrikfestivals "Frühling der Poesie"; zuletzt erschienen: Der eiserne Wolf im barocken Labyrinth. Erwachendes Vilnius. € 14,90. Picus, Wien 2009

 

Foto: Vladas Braziunas

Vilnius ist eine Stadt mit ganz besonderem Flair. Unweit der geografischen Mitte Europas treffen hier Osten und Westen aufeinander: Zwischen italienischem Barock, den man so weit im Norden nicht vermuten würde, wölben sich die Kuppeln orthodoxer Kirchen. Wie überhaupt Gegensätze die Faszination der litauischen Hauptstadt ausmachen: Die barocken Bauten stehen im Labyrinth verwinkelter gotischer Gassen, und wilde, unregulierte Natur umgibt selbst die in den letzten Jahren gebauten Wolkenkratzer, in deren Nähe sich noch immer alte kleine Holzhäuser befinden.

Seit dem EU-Beitritt Litauens vor fünf Jahren begegne ich in Vilnius auch Touristengruppen mit regenschirmschwingenden Führerinnen. Und in diesem Jahr, in dem Vilnius zusammen mit Linz Europäische Kulturhauptstadt ist und Litauen sein 1000-Jahr-Jubiläum feiert, ist die Stadt schon längst kein Geheimtipp mehr, aber noch immer ein Ziel, das eher Individualreisende anzieht als All-inclusive-Touristen. Und gerade das macht für mich die Attraktion dieser außergewöhnlichen Stadt aus.

Als Europäische Kulturhauptstadt hat Vilnius viele Negativschlagzeilen gemacht. Zu Jahresbeginn wurde das Budget um 40 Prozent gekürzt, die Intendantin trat zurück, und einige Zeit war nicht klar, welche Veranstaltungen überhaupt stattfinden würden. Immerhin, die Homepage von "Vilnius 2009" informiert auch auf Deutsch über die dennoch zahlreichen und außergewöhnlichen Projekte: In der kürzesten Nacht des Jahres, die in Litauen eine besondere Tradition hat und in der es kaum dunkel wird, kann man von 21. auf 22. Juni eine Kulturnacht erleben, die alle öffentlichen Plätze und Kirchen miteinbezieht. "Kunst an außergewöhnlichen Orten" gibt es in der Zeit von 19. bis 27. September: In zahlreichen Höfen der Altstadt, auf Märkten und Brücken oder in "Geisterhäusern" werden Performances und Interventionen internationaler Künstler stattfinden.

An die Poesie gekoppelt

Wer je ein litauisches Liederfest erlebt hat, wird es so schnell nicht vergessen. Hunderte Vokal- und Instrumentalensembles aus dem ganzen Land sind beteiligt an diesem Großereignis, das nur alle fünf Jahre stattfindet. Dabei spürt man: Volksmusik ist in Litauen kein kulturelles Reservat, das "gepflegt" werden müsste, sondern hat sich von zeitgenössischer Musik und Poesie nie abgekoppelt. 1989 wurde dieses Liederfest zur "Singenden Revolution", und 20 Jahre danach ist es von 1. bis 6. Juli 2009 ein zentrales Ereignis des tausendjährigen Jubiläums der ersten urkundlichen Erwähnung des Namens Litauen. Archaische Melodien, viel älter als die alpenländische Dur-Moll-Tonalität, und weltweit einzigartige Instrumente wie Kankles (ein zitherähnliches Zupfinstrument) oder Birbyne (ein Blasinstrument) prägen die litauische Musik. Die Texte ihrer Lieder haben Herder, Lessing und Goethe begeistert.

"1000 Jahre Litauen" ist auch der Anlass für die Eröffnung des wiedererrichteten Herrscherpalastes der litauischen Großfürsten am 6. Juli. Ich selbst habe den freien Platz hinter der Kathedrale immer gemocht, doch die Litauer erinnert er wohl an die Verwüstung des Symbols ihrer auf das Mittelalter zurückgehenden Staatlichkeit durch das russische Zarenreich. So wird Vilnius seinen neuen, alten Herrscherpalast wenigstens nicht so "sinnig" nutzen wie Braunschweig das wiederaufgebaute Stadtschloss - als Einkaufszentrum nämlich -, sondern als Kulturzentrum. Mit der Eröffnung des Palastes beginnt auch die bis 4. Oktober dauernde Ausstellung "Wawel in Vilnius", die mit Exponaten aus der Krakauer Königsburg die gemeinsame Geschichte des litauisch-polnischen Doppelstaates vom 14. Jahrhundert bis zur sogenannten "dritten polnischen Teilung" von 1795 zeigt.

Auch wer nicht zu diesen Terminen kommt, wird ein "Programm" für viele Tage finden: Die 1579 gegründete Universität mit ihren 13 Innenhöfen, das auf drei Gebäude verteilte jüdische Museum und die Überreste des "litauischen Jerusalem", wie Vilnius genannt wurde, oder die vielen in den letzten Jahren renovierten Kirchen lohnen eine genaue Betrachtung. Nicht nur einzelne Gebäude, sondern die Altstadt von Vilnius als Ganze - eine der größten Mittelosteuropas - wurde in die Liste des Unesco-Weltkulturerbes aufgenommen. Und das einzigartige KGB-Museum hat nicht nur mir die Augen geöffnet für die von Russland bis heute nicht einbekannten, geschweige denn entschädigten Verbrechen des sowjetischen Terrorsystems.

Auf andere Weise erinnert das einzige seit dem Ende der Sowjetunion unveränderte Restaurant an diese Zeit : Das "Neringa", das nach seiner Gründung vor genau 50 Jahren Jazz-Café (eine Sensation sechs Jahre nach Stalins Tod!) und Intellektuellen-Treff war, wurde von Joseph Brodsky bedichtet und verströmt noch heute mehr als Retro-Charme. Und während man etwa in Madrid auch im Stadtzentrum eine englische Speisekarte oft vergeblich sucht, kann man sich jene des "Neringa" bereits im Internet anschauen; wie auch jene des "Savas kampas": Zwischen stilvollen alten Möbeln wird man dort ebenso fürstlich frühstücken wie zu Mittag königlich essen.

Republik der Gastgärten

Vilnius und seine Lokale - da könnte ich endlos ins Schwärmen geraten. Habe ich zum Beispiel die legendäre Künstlerrepublik "Uzupis" - das Stadtviertel mit der in einer Kunstaktion proklamierten Verfassung - erst einmal betreten, muss ich mich unbedingt mit einem Bier oder einem guten litauischen Gericht im Gastgarten des "Uzupio kavine" auf diese eigene Welt einstimmen, an der ruhig die Vilnele vorbeifließt. Das geht auch ganz gut im Restaurant "Gabi", in dessen Hof man im Sommer zwischen altem bäuerlichem Gerät "Saltibarsciai" (kalte Rote-Rüben-Suppe) essen kann, genau so, als säße man bei Freunden am Land oder auch im modernen "Mano guru", wo es die besten frischen Säfte und fantasievolle Salatteller gibt. So schmeckt das preisgekrönte Bier "Svyturys" tatsächlich überall herrlich, und das aus unvergorenem Brot hergestellte Getränk "Gira" doch am besten im "Amatininku" am Rathausplatz, denn dort ist es hausgemacht.

Von den vielen neu entstandenen Hotels habe ich bisher nur die Bausünde Novotel gemieden. Vom exklusiven "Narutis" - einem Gebäude aus dem 16. Jahrhundert mit Sauna und türkischem Bad im Keller - bis zum preiswerten "Bernardinu B/B House" ist das Übernachten mitten in der Altstadt immer angenehm. Eine Überraschung ist jedenfalls das etwas abseits vom Zentrum gelegene Gästehaus "Saules namai": Hier hat ein Künstlerehepaar neun sehr unterschiedliche Zimmer gestaltet. Reservieren kann man, wie in jedem guten Hotel hier, auf Englisch im Internet.

Ja, für Vilnius kann ich meine Hand ins Feuer legen: Nicht nur, weil ich ein unheilbarer Fan dieser Stadt bin, sondern weil ich noch niemanden kenne, der enttäuscht von dort zurückgekehrt wäre. (Cornelius Hell/DER STANDARD/Printausgabe/23./24.5.2009)