Nobelpreisträger Muhammad Yunus: "Die Armen sind nicht anders. Sie brauchen nur eine Chance, selbst tätig zu werden."

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Wie jede erfolgreiche Bewegung hat auch die der Mikrokredite eine Gründungslegende. 1974 versuchte der junge Volkswirtschaftsprofessor Muhammad Yunus von der Universität Chittagong die Ursachen von Armut in Bangladesch zu ergründen. Dabei beobachtete er in einem Dorf, wie eine Frau mit dem Bau von Bambus-Sesseln zwar genug Geld verdiente, aber weiterhin unter der Armutsgrenze leben musste. „Der lokale Kredithai presste alles aus ihr heraus", erzählt Yunus. „Wir machten eine Liste und fanden heraus, dass 42 Frauen insgesamt die lächerliche Summe von 27 Dollar schuldeten." Yunus gab den Frauen das Geld, damit sie sich freikaufen und selbstständig machen konnten. So kam die Idee der Mikrokredite in die Welt. 1983 wurde daraus die Grameen Bank und aus Yunus der „Banker der Armen".

Der charismatische Yunus wird nicht müde, die Geschichte zu erzählen, stets mit einem warmherzigen Lächeln, am Donnerstagnachmittag auch in Wien, wo der Friedensnobelpreisträger 2006 auf Einladung der Sigmund Freud Privatuniversität sprach. Seine wichtigste Botschaft: „Armut wird nicht von armen Menschen verursacht. Das System erzeugt Armut, nicht die Armen. Jedes Kind kommt mit demselben Potenzial auf die Welt, aber unsere Gesellschaft hat ihnen nie eine Chance gegeben."

Diese Chance hat die Grameen Bank in dem Vierteljahrhundert ihrer Tätigkeit inzwischen acht Millionen Menschen gegeben, bei einem Kreditvolumen von rund hundert Millionen Dollar im Monat, im Schnitt rund 200 Dollar pro Person. Mikrokredite waren offenbar eine Idee, die ihrer Verwirklichung harrte: Etwa zeitgleich mit der Grameen Bank (ab 1976 arbeitete Yunus an einem Vorläuferprojekt) entstanden in Bangladesch zwei weitere bedeutende Mikrokredit-Institute, BRAC und ASA. Rund um die Welt entwickelten sich tausende Initiativen, die Kleinstkredite vergeben, um zur Selbstständigkeit zu ermutigen - was wiederum in Verbindung mit neuen Technologien wie Handys und Internet eine Welle an Kleinunternehmertum vor allem in Entwicklungsländern auslöste.

Kreditwürdige Frauen

Das Grameen-Grundmodell : Die Kredite werden zwar an Individuen, zum überwiegenden Teil Frauen, vergeben - aber Peergruppen (Freundinnen und Verwandte) bürgen für die Rückzahlung. „97 Prozent unserer Kredite gehen an Frauen, und sie besitzen die Bank", die genossenschaftlich organisiert ist, sagt Yunus. Geld gibt es nur zum Aufbau eines Geschäfts, nicht für täglichen Bedarf, und die winzigen Ratenzahlungen werden wöchentlich eingesammelt. Die Kredite sind mit rund 20 Prozent Verzinsung nach hiesigen Maßstäben sogar sehr teuer - aber in Entwicklungsländer für Schuldner mit scheinbar schlechter Bonität vergleichsweise billig. „Die Kredithaie kassierten 500 Prozent."
Allerdings gibt es auch Skepsis, ob die anekdotischen Erfolgsstorys auch breiterer Untersuchung standhalten. Die wenigen Studien, die es dazu gibt, würden Kleinstkredite zwar für hilfreich, aber nicht unbedingt lebensverändernd halten, berichtete der Economist. In den 90er-Jahren häuften sich bei Grameen die Probleme: Ausfälle bei Rückzahlungen brachten die Bank in finanzielle Schwierigkeiten, die nur durch Spenden abgedeckt werden konnten. Da sie in erster Linie Kredite vergab, fehlten ihr Einlagen zu Refinanzierung.

Von Bangladesh in die USA

Andere Mikrokredit-Finanzinstitutionen, wie die indonesische BRI, schafften in ähnlichen Krisen den Turnaround, indem sie ihren Schwerpunkt von Krediten auf Ansparen verlagerten. Grameen folgte dem Beispiel, verlegte sich ab 2001 gleichfalls aufs Sparen und hat heute mehr Einlagen als Kredite. Worauf Yunus besonders stolz ist: Vor zwei Jahren eröffnete die Grameen Bank eine Filiale im New Yorker Stadtteil Queens. „Wir haben 1660 Kreditnehmer, lauter Frauen, 99,5 Prozent Rückzahlrate, alles ohne Verträge und Anwälte, und das in der Stadt, in der die größten Banken kollabierten."
Yunus ist inzwischen, nachdem das Mikrokredit-Konzept weltweite Verbreitung fand, dabei, den nächsten Schritt seiner sozialen Umwälzung zu propagieren. „Viele Probleme unserer Welt stammen aus einer verengten Interpretation des Kapitalismus, in der der Mensch nur eine gelderzeugende Maschine ist. Es gibt Eigeninteressen, aber es gibt auch Selbstlosigkeit. Profitorientierte Unternehmen gründen auf Eigeninteressen. Aber wir machen einen Fehler, wenn wir die Selbstlosigkeit ignorieren. Um ein ganzes Bild des Menschen zu erhalten, müssen wir die Selbstlosigkeit zur Gründung von Sozialunternehmen nützen: Kein Verlust, keine Dividende", will Yunus die Welt profitorientierter Unternehmen nicht beseitigen, sondern ergänzen. „Unsere Finanzkrise ist entstanden, weil wir die Welt nur durch die Brille des Profits gesehen haben."

Auch bei der Schaffung von Sozialunternehmen geht Yunus mit gutem Beispiel voran: Zusammen mit Danone gründete Grameen ein Joint Venture, das ein für Arme erschwingliches Joghurt mit Nährstoffanreicherungen herstellt und damit Blindheit oder frühen Kindestod verhindert. Ein anderes Joint Venture, Grameen-Veolia, stellt Trinkwasser her und verkauft es um wenig Geld. Gewinne werden in den Unternehmenszweck reinvestiert, aber die Investoren können ihr Kapital eines Tages zurückerhalten. Warum Menschen für Grundbedürfnisse zahlen sollen? „Wenn das Geld aus Charity kommt, hat es nur ein Leben, es ist weg, sobald man es verschenkt hat. Wenn das Geld aus einem Sozialunternehmen kommt, dann wird es recycelt, es hat endlos viele Leben."

Befürchtungen, dass Yunus damit „bösen Konzernen" Respektabilität zur Imagepflege verleiht, entkräftet er pragmatisch: „Vielleicht benutzen sie mich. Vielleicht benutze auch ich sie. Hauptsache, etwas Gutes entsteht." (Helmut Spudich, DER STANDARD, Printausgabe, 29.5.2009)