Jochen Staadt: Die Gewalteruption wäre mit dem Wissen um Kurras' Agententätigkeit so nicht eingetreten.

Foto: Freie Universität Berlin

Der Berliner Historiker Jochen Staadt erläutert im Gespräch mit Bert Rebhandl die Merkwürdigkeiten des Aktenverkehrs: Warum wurde erst jetzt ruchbar, dass der Todesschütze Karl-Heinz Kurras für die Staatssicherheit der DDR arbeitete?

Standard: Sie haben täglich mit Akten der DDR-Staatssicherheit zu tun. Stimmt es wirklich, dass man nur nach dem Namen Karl-Heinz Kurras hätte fragen müssen, um herauszufinden, dass der Polizist, der am 2. Juni 1967 in West-Berlin den Studenten Benno Ohnesorg erschoss, für die DDR gearbeitet hat?

Staadt: Dieser Aktenfund beruht auf reinem Zufall. Eine Mitarbeiterin hat nach "anonymen" Mauertoten geforscht. Sie beschäftigte sich dabei mit der Einheit im DDR-Ministerium für Staatssicherheit (MfS), die für die Überwachung des DDR-Militärs an der Mauer zuständig war. Dabei fand sie die Akte Kurras, die bewusst versteckt worden war. Nun sagt die Birthler-Behörde, man hätte auch nach Kurras fragen können, er ist in der Kartei verzeichnet. Aber auf die Idee ist eben niemand gekommen – verständlicherweise, denn die kühne Fantasie, sich auszumalen, was jetzt bekanntwurde, hatte niemand. Nun kann niemand unmittelbar an die Kartei heran, denn sie ist in ihrem Zustand noch so, wie von der MfS angelegt. Es gibt Karteikarten, die Klarnamen und Decknamen enthalten, und in diesen Karteien dürfen nur Mitarbeiter der Birthler-Behörde recherchieren. Sie können allerdings einen Namen nennen, und wenn Sie das gut begründen, dann werden Sie darüber Auskunft bekommen, ob jemand bei der Stasi war.

Standard: Die unmittelbare Frage ist nun die, welcher Karl-Heinz Kurras es war, der auf Benno Ohnesorg geschossen hat: der Stasi-Agent oder der West-Berliner Polizist?

Staadt: Meine Interpretation wäre zunächst, dass in der damaligen Situation die Ordnungsvorstellungen bei Sicherheitskräften in Ost und West nicht sehr weit auseinanderlagen. Studenten galten im Osten wie im Westen als Gammler, Nichtsnutze, Penner! Als Mitglieder der Kommune 1 am Alexanderplatz auf den Weihnachtsmarkt gingen, wurden sie sofort von der Volkspolizei verhaftet, wegen der langen Haare und der Ledermäntel. Deswegen waren für Kurras, egal ob er in seiner SED- oder in seiner Westberliner Polizeiidentität handelte, diese Leute Hassobjekte. Das andere ist, dass der Schuss Kurras' Gesinnung als Kommunist entsprach: Er hatte wohl die Vorstellung, dass er mit dieser Tat die Westberliner Polizei in ihrem Ansehen schädigen konnte. Ein durchaus plausibles Motiv.

Standard: Was war generell die politische Tendenz der Stasi um 1967?

Staadt: In den 60er-Jahren galt noch eine sehr offensive Ausrichtung gegenüber dem Westen. Der SED-Vorsitzende Ulbricht hat 1966 in einer großen Rede erklärt, was alles geschehen müsste, damit es aus DDR-Warte zur Wiedervereinigung kommen könnte. Die Entmachtung des Springer-Konzerns war damals übrigens schon ein Faktor. Das MfS war damals damit beschäftigt, offensiv im Westen möglichst viel Opposition gegen die große Koalition zu organisieren.

Standard: Dabei wollte die Studentenbewegung doch das System der BRD überwinden, hatte also das gleiche Interesse wie die DDR.

Staadt: Es gab im Berliner SDS (Sozialistischen Deutschen Studentenbund) mehrere Agenten des MfS. Die haben aber gerade auch die "Antiautoritären" als Unordnungsfaktor bekämpft. Einer der Spitzenleute des MfS, Dietrich Staritz, der übrigens gleichzeitig für den BRD-Verfassungsschutz gearbeitet hat, gehörte zu einer Gruppe mit dem Namen Alte Keulenriege. In den Augen dieser Leute vertrat Studentenführer Rudi Dutschke unmarxistische Ideen.

Standard: Was wäre anders verlaufen, hätte die Öffentlichkeit 1967 davon erfahren, dass Benno Ohnesorg von einem Stasi-Agenten erschossen wurde?

Staadt: Die ganze Freundschaft zur DDR im Umfeld der DKP hätte ganz anders ausgesehen. Dass Gruppen mit Nähe zur DKP in den 70er-Jahren viele westdeutsche Studentenvertretungen dominierten, das wäre so nicht gewesen. Heinrich Albertz wäre als Regierender Bürgermeister von Berlin nicht zurückgetreten. Die Kluft zwischen Studenten und Bevölkerung vor allem in Berlin wäre nicht so groß geworden. Und vor allem: Die Gewalteruption, die sich wesentlich auf Benno Ohnesorg bezog und zur RAF und zur Bewegung 2. Juni geführt hat, wäre so nicht eingetreten.

(Bert Rebhandl, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 29. Mai 2009)