DER STANDARD: Wenn Sie durch Wien gehen, können Sie Plakate sehen, die "Abendland in Christenhand" fordern. Kein erfreulicher Anblick für einen Theoretiker des Multikulturalismus wie Sie, nicht wahr?

Taylor: Ich war wirklich schockiert. Denn das ist doch nur mehr destruktiv. Ein Land wie Ihres oder meines hat zwei Möglichkeiten: Entweder man lässt keine Einwanderer ins Land, oder wir können, wenn wir sie hereinlassen, als Demokraten doch nicht unsere Prinzipien von Gleichheit und Respekt vor den anderen über Bord werfen. Solche Reaktionen sind Ausdruck einer Krise, und diese wiederum ist Ausdruck von Ängsten, davor, dass sich einfach alles ändert.

DER STANDARD: Sind diese Ängste auch Ausdruck einer Identitätsschwäche?

Taylor: Nein, die Identität des Landes steht doch keineswegs in Frage.

DER STANDARD: Sie kommen aus Kanada. Ihr Land wird immer als Vorbild für Integration genannt. Was macht Kanada besser als wir?

Taylor: Erstens haben wir eine zweihundertjährige Tradition mit Einwanderung. Zweitens haben wir ein klar geregeltes System: Wir haben ein Punktesystem der Einwanderung. Bildung spielt eine Rolle, wenn du eine der beiden offiziellen Sprachen sprichst, dann bekommst du Punkte etc. Das Resultat: Die Einwanderer, die zu uns kommen, sind meist qualifizierter als viele autochthone Kanadier. Das ist natürlich etwas anderes als bei Ihnen, wo die Einwanderer oft wenig Qualifikationen aufweisen, wo oft die Ärmsten aus den unterentwickeltsten Regionen ihrer Länder kommen. Wir haben auch Glück: Kanada ist von den Armutszonen weit entfernt. Die unterqualifizierten Migranten, die illegal in den Norden wollen, etwa aus Mexiko, die bleiben in den USA und kommen gar nicht zu uns.

DER STANDARD: Geografie spielt also eine Rolle?

Taylor: Ja, die USA haben ein System, das unserem sehr ähnlich ist, aber viel mehr Probleme. In die USA kommt man, indem man den Rio Grande durchschwimmt. Da ist es sehr viel schwerer, sich auszusuchen, wer ins Land kommen soll. Es ist also klar, dass ein Land wie Österreich, wo das eher so ist wie in den USA, größere Probleme hat. Aber gerade deshalb gilt: Ein Kreislauf, bei dem die Migranten Probleme haben, Zugang zu Aufstiegschancen und Bildung zu bekommen, bei dem sie frustriert sind, und dann auch noch auf aggressive Ablehnung stoßen und sich die Animositäten aufschaukeln, ein solcher Kreislauf macht alles noch viel schlimmer, zu-mal wenn es Parteien gibt, deren Hauptzweck darin besteht, diesen Zorn und Ärger noch zu verbreiten und zu verstärken.

DER STANDARD: Multikulturalismus - zu Multikulti verniedlicht - ist heute fast schon ein Unwort, verbunden mit Attributen wie "blauäugig" und "Gutmenschentum" . Ist Multikulturalismus tot?

Taylor: Es hängt davon ab, was man unter Multikulturalismus versteht. Wenn man darunter versteht, dass alle in ihren Parallelgesellschaften tun sollen, was sie wollen, dann ist Multikulturalismus keine Antwort. Richtig verstandener Multikulturalismus setzt sich für mehr Integration ein, nicht für weniger. Multikulturalismus kann nicht bedeuten, dass wir bunt in unserer totalen Verschiedenheit nebeneinander her leben. Multikulturalismus setzt Bildung voraus, muss Migranten befähigen, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Natürlich bedeutet das dann, dass sich Gesellschaften durch Integration auch verändern. Wenn Kinder von Immigranten aber nicht einmal in der Schule richtig die Landessprache lernen, dann haben sie nie eine Chance, im Leben zu reüssieren. Kurzum: Für uns ist Multikulturalität eine Strategie der Integration.

DER STANDARD: Aber die Einwanderer werden trotzdem nicht zum 08/15-Kanadier.

Taylor: Natürlich nicht, sie behalten wichtige Elemente ihrer Identität, die sie unterscheiden - etwa ihre Religion.

DER STANDARD: Apropos: Religion wird wieder mehr zum Mittel, Differenz zu markieren. Früher hätten Xenophobe gegen "die Ausländer" oder "die Türken" gehetzt, heute geht es um "christliches Abendland" gegen "die Moslems" . Hat uns das die vielbeschworene "Rückkehr der Religion" eingebrockt?

Taylor: Nein, ganz und gar nicht. Primär hat das geopolitische Ursachen. Aufgrund des Aufstiegs des Islamismus lässt sich der Terminus "Muslim" als Marker benutzen, in dem Sinn: "Seht her, die gefährlichen Moslems!" Das ist eine Übersetzung schon vorhandener xenophober Emotionen.

DER STANDARD: Ihr jüngstes Buch heißt "A Secular Age" . Man ist schon vom Titel überrascht: Redet doch jeder von der Rückkehr der Religionen. Gibt's die also nicht?

Taylor: Säkular heißt nicht notwendigerweise, dass die Religion verschwindet oder weniger Leute gläubig sind. Das kann es heißen - in Schweden oder in Ostdeutschland ist das der Fall -, es heißt aber in jedem Fall, dass sich das Religiöse verändert. Früher hatte man die Religion, in die man hineingeboren war, oft war es auch so, dass man in aller Regel die Religion hatte, die in der Gesellschaft, in der man lebte, vorherrschend war. Heute ist es so, dass religiöse Menschen ihre Konfession auch ändern. Die Kinder behalten nicht notwendigerweise die Religion ihrer Eltern. Das ist eine Vervielfältigung, die charakteristisch für das säkulare Zeitalter ist. Die Bevölkerung der USA ist sehr religiös, aber viele Leute suchen und wechseln.

DER STANDARD: Ist das dann nicht Religiosität unter den Bedingun-gen des Konsumismus? Nach dem Motto: "Zu mir passt eine Mischung aus Yoga und Buddhismus am besten." Ist das noch Religiosität in einem Sinn, wie wir ihn gewohnt sind?

Taylor: Sie meinen, das habe etwas Unernstes? Viele Leute erleben gerade das als ein sehr ernsthaftes spirituelles Suchen. Möglicherweise ernsthafter, als die Traditionsreligiosität, die man eben so hat, weil sie Papa, Oma und Uroma auch schon hatten. Für die ist Buddhismus mit Yoga eine ernste Sache.

DER STANDARD: Wie passt diese Fluidität zu den fundamentalistischen Verhärtungen, den religiösen Konflikten, die wir ebenso erleben?

Taylor: Diese Verhärtungen erleben wir aber im Westen weniger ...

DER STANDARD: ... aber wir erleben sie doch im Westen auch!

Taylor: Aber das war ein Phänomen - das des politischen, radikalen Evangelikalismus -, das doch sehr auf die USA beschränkt war. Nur in den USA hat man das Konzept des "Ich bin ein richtiger Amerikaner" mit einer verhärteten Religiosität verbunden. Und das ist mit der Bush-Ära möglicherweise auch untergegangen. Tatsächlich haben wir eine Rückkehr der Religion in Form von Fundamentalismus wohl vor allem in der islamischen Welt: Hier ersetzte die Religion die panarabischen nationalistischen Ideologien, wie sie von Nasser und anderen vertreten wurden. Der Fundamentalismus ist hier eine Reaktion auf das Scheitern der nationalistischen Befreiungsideologien.

DER STANDARD: In Deutschland haben fundamentalistische Freikirchen teils erstaunlichen Zulauf unter jungen Leuten, denen das Mainstream-Christentum zu lau ist. Und diese erweisen sich als politisch ähnlich aggressiv wie ihre amerikanischen Vorbilder.

Taylor: Aber sie sind kleine Minoritäten und sie entsprechen eher dem Phänomen der religiösen Sinnsuche: Man sucht sich etwas, das einem mehr Sinn vermittelt. Gerade das ist ja oft mit Konfessionswechsel verbunden oder mit der Suche nach Gemeinden, die einem individuell entsprechen.

DER STANDARD: Demgegenüber gibt es neuerdings auch die Strömung des Neuen Atheismus, die getragen ist von dem Erschrecken, dass die Religionen plötzlich wieder so viel Unheil anrichten.

Taylor: Ja, aber deren Religionskritik ist meist intellektuell sehr schlicht. Getragen ist sie von Leuten, die in einem urbanen Liberalismus eingebettet leben, und die der festen Überzeugung waren, die Religion werde sich selbst erledigen. Jetzt sind sie schockiert, dass die Religion zurückkehrt - beziehungsweise weil sie überrascht sehen, dass die Religion nie weg war. Die sind leider schrecklich ignorant. Diese Vorkämpfer des neuen Atheismus wie Richard Dawkins sind selbst fundamentalistisch.

DER STANDARD: Die These Ihres Buches ist also: Die heutige Religiosität ist selbst säkular. Klingt paradox.

Taylor: (lacht). Ja, das ist sehr subtil. Deshalb hat es auch über achthundert Seiten.

DER STANDARD: Noch eines: Barack Obama wurde zum US-Präsidenten gewählt, gleichzeitig stürzen wir in eine neue Weltwirtschaftskrise ab. Ein historischer Wendepunkt?

Taylor: Ja, ich bin davon absolut überzeugt. Meine Freunde sagen zwar, ich sei ein unverbesserlicher Optimist. Aber ich denke, es ist wirklich ein wichtiger Augenblick. Eine unglaublich aggressive, ultrakonservative und neoliberale Partei hat die Welt in die Situation gebracht, die Obama erst ermöglichte, und sie hat mit ihrer Wirtschaftspolitik ja auch die gegenwärtige Wirtschaftskrise erst verursacht. Es hat auch etwas Deprimierendes, dass das notwendig war, damit eine Wende möglich wurde. Aber es ist eine Wende. (Robert Misik/ DER STANDARD-Printausgabe, 30. Mai 2009)