Das letzte, was er hörte, war ermahnendes Zischen. War dieses Pssst. 16. Juli 1942, halb sechs Uhr früh, im dritten Stock eines Mietshauses in Paris-Montrouge. Margarethe Federman, die alle nur Margot nannten, schob ihren acht Wochen zuvor 14 Jahre alt gewordenen Sohn Raymond in einen Wandschrank, nachdem an die Wohnungstür geklopft worden war. Sie signalisierte ihm, nur ja keinen Laut von sich zu geben. Darüber zu spekulieren, ob sie in jenem Moment wusste, dass sie Raymond nie mehr sehen würde, ist anmaßend, ja geradezu obszön. Anderes wusste sie dagegen sicherlich: Die große Razzia gegen die Pariser Juden hatte begonnen. Und sie, ihr kränklicher Mann und die zwei Töchter wurden an jenem Julitag verhaftet, abgeführt, wenig später deportiert und in Auschwitz umgebracht. Nur Raymond überlebte. Im Schrank. Dank dieses "Pssst!"

Heute, mit 80 Jahren, ist Raymond Federman Amerikaner, pensionierter Literaturprofessor und seit Mitte der 1960er-Jahre einer der namhaftesten postmodernen Autoren. In seinem jüngsten, von Andrea Spingler ausnehmend gut übersetzten Buch rührt er an jene Phase seines Lebens, der er jahrzehntelang auswich. Zu verschüttet erschien sie ihm. Nur unter größter Anstrengung kann er, der sich im Sommer 1942 nach Südfrankreich durchschlug, dort drei Jahre lang auf einem Bauernhof als kostenloser Hilfsarbeiter gehalten wurde, 1945 nach Paris zurückkehrte, in die USA auswanderte, Soldat wurde, in Korea und Japan stationiert war, dann Literatur studierte, eine Dozentur in Buffalo, US-Bundesstaat New York, erhielt und mit Double or Nothing und Take It or Leave It zwei der heitersten Bücher der experimentellen Nachkriegsliteratur schrieb, sich an seine Kindheit erinnern.

Wieso tat dies seine Mutter, wieso sollte ausgerechnet er, allein er, überleben und nicht eine seiner Schwestern? "Wie soll man diesen schrecklichen Moment nennen?", sinniert Federman. "War es ein Glückstag? Ein Geburtstag? Eine Rettung? Oder muss man ihn als Anfang einer langen Abwesenheit von mir selbst bezeichnen?" Er beschreibt die elterliche Wohnung, das ärmliche Leben, Umfeld, Mitschüler, holt Streiche und Memorabilia aus dem Verwandtschaftskreis aus dem Brunnen der Erinnerung. So beruhigt und so gebändigt war Federmans Prosa selten zuvor; und doch fällt er sich auch in Pssst! gewohnterweise selbst ins Wort, kann seine zweite Stimme nicht stumm sein.

Als Motto wählte Federman Sätze aus dem Ausgestoßenen Samuel Becketts, seines engen, von ihm bewunderten Freundes: "Ich weiß nicht, warum ich diese Geschichte erzählt habe. Ich hätte ebenso gut eine andere erzählen können. Ein andermal werde ich vielleicht eine andere erzählen können. Wie sehr sie sich gleichen, das werdet ihr sehen, ihr lebenden Seelen." Diese Geschichte hätte aber keiner erzählen, hätte niemand so erzählen können wie Raymond Federman. Es ist ein Monument für seine geliebte Mutter, die ihm das Leben schenkte - zweimal. "Meine Pflicht, wenn ich denn eine habe", so Raymond Federman, "ist es, das große Loch der Abwesenheit, das meine Mutter in mir zurückgelassen hat, aufzufüllen. Ihr in dem, was ich schreibe, Präsenz zu verleihen. Und denen, die erniedrigt worden sind, ein wenig Würde zurückzugeben." (Alexander Kluy, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 30./31.05. & 01.06.2009)