Ein Versuch, das Aus-den-Fugen-Geraten der Welt zu verhindern: Lorenz Langenegger.

Foto: Alexandra Hermann

"Auch im August war es schon so gewesen, und längst hatte man sich entwöhnt, den Schnee als ein Vorrecht des Winters zu betrachten." Dreieinhalb Zugstunden westlich vom Zauberberg liegt Bern; gewöhnungsbedürftig die Witterung hier wie dort, damals wie heute: "Das wäre eine angenehme Frage zum Aufstehen: Wie wird das Wetter heute? Oder im Fall dieses Sommermorgens: Ob es immer noch regnet?"

Wie Hans Castorp beschäftigt auch Jakob Walter nebst jener nach dem Wetter zusehends eine ganz andere Frage: Warum bin ich eigentlich hier und nicht anderswo? Eine Frage, die an diesem ersten August, dem Schweizer Nationalfeiertag, umso virulenter wird, als Walters Frau, Edith, über das verlängerte Wochenende zu ihren Eltern fährt, Walter also drei Tage mit sich selbst auskommen muss - eine Herausforderung, die er vermeidet, so oft es geht. Dass der nicht glücklich ist, der weg will von dem Ort, an dem er lebt, hat schon Franz Kafka gewusst, aber auch ohne derlei Rückgriffe erschließt es sich bei näherer Betrachtung rasch, dass einem kein besonderes Unglück zu widerfahren braucht, um daseinsirritiert zu sein.

Schon die ersten Zeilen lassen erahnen, dass es sich bei dem Verwaltungsbeamten Walter um eine verstörte Existenz handelt: "Wenn Jakob Walter erwacht, ist um ihn herum erst einmal nichts. Die ersten Sekunden des Tages, in denen die einen den Schattengestalten ihrer Träume begegnen, andere im Kopf bereits Unerledigtes auflisten und ihr Tagwerk vorbereiten, braucht Walter, um sich im Schlafzimmer seiner eigenen Wohnung zurechtzufinden. Es ist ihm, als ob er jeden Tag zum ersten Mal in diesem Doppelbett neben Edith erwachen würde. Stück für Stück setzt er die altbekannte Welt zusammen." Und wenig anderes wird Jakob Walter auf den folgenden 167 Seiten tun, als mit ebendiesem Zusammensetzen der Welt beschäftigt zu sein, zu versuchen, das Aus-den-Fugen-Geraten derselben durch kleinteilige Handlungen zu verhindern. Hier im Regen ist auf den ersten Blick ein ereignisarmes Buch, aber, anders als in vielen anderen Texten dieser Art, wird hier die Ereignislosigkeit nicht zelebriert, schrammt deren Inszenierung nie an der Attitüde. Freilich braucht es eine gewisse Grundaffinität zu eigenbrötlerischen Menschen, versponnenen Gedanken und leiser, unaufdringlicher Prosa, um dieser Literatur folgen zu können und zu wollen.

Komik und Paraphrase

"Der Tag, an dem dann doch noch einmal etwas geschieht, ist der Freitag vor Ostern", heißt es in Judith Hermanns Sommerhaus, später. An einem Freitagmorgen beginnt auch Hier im Regen, aber anders als bei Hermann werden bei Langenegger die Begehrlichkeiten einer identifikatorisch bedürftigen Leserschaft nicht bedient: keine weichgezeichnete Umland-Poesie, kein melancholisches Stadtgeflüster, und auch wenn John von Düffels Klappentext Gegenteiliges behauptet, entbehren die Situationen und Verfänglichkeiten, in die Jakob Walter in den drei Tagen erzählter Zeit gerät, nicht selten einer Komik, die unweigerlich mehr an die Figuren in Wilhelm Genazinos Romanen denn an jene bei Robert Walser erinnern; ein ärgerlicher Versuch externer Rezeptionssteuerung, zumal Genazino ohnehin tiefgründiger und Walser komischer ist, als dies gemeinhin attestiert wird.

Was Langenegger mit beiden der genannten Autoren vielmehr verbindet, ist jene Kohärenz von Form und Inhalt, die einen Text glaubwürdig macht. So wie man mit Jakob von Gunten nicht ganz bangelos die Dienerschule Benjamenta durchschreiten kann, kann man mit Jakob Walter nicht ganz sorglos durch Bern flanieren, man kann sich aber an ihm bestens darin üben, Sympathien für jemanden zu entwickeln, der auf den ersten Blick nicht unbedingt sympathisch wirkt. Dies gilt mehr noch - und darauf kommt es an - für den Text als für die Figur. Der 1980 in Zürich geborene Lorenz Langenegger hat ein unaufgeregtes Buch geschrieben, das seine Stärke aus größtmöglicher sprachlicher Präzision und einem ausgeprägten Sinn für die Eigentlichkeit des Alltäglichen schöpft.

Am Ende bleibt für Jakob Walter scheinbar alles beim Alten: Er täuscht Edith vor, die Wohnung in den drei Tagen ihrer Abwesenheit kaum verlassen zu haben, er verhält sich wie ein ausgebüchstes Kind, das bei Einbruch der Dämmerung dann doch wieder kehrt macht. Nichtsdestotrotz hat sich Walter verändert, auch wenn ungewiss bleibt, ob von Dauer. Für Sigmund Freud war das vermittels Psychoanalyse maximal Erreichbare die Verwandlung des "neurotischen Elends" in "allgemeines Unglück".

Jakob Walter erlebt - und das ist vielleicht der Trost, den Literatur nie leisten muss, aber (auch) darf - ganz ohne analytische Kur eine jener Minimalverschiebungen, welche die Annahme vom grundlosen Unglück insofern ergänzt, als einem kein besonders grandioses Glück zu widerfahren braucht, um ein glücklicher(er) Mensch zu werden. Jakob Walter ist hiefür kein klinischer, aber ein literarischer Kronzeuge, und mit einem solchen hätte Freud wohl ohnedies die hellere Freude gehabt.

Wir auch: "Edith verabschiedet sich. Walter räumt den Tisch ab, putzt die Zähne, zieht die Schuhe an und geht zur Arbeit, wie er jeden Montagmorgen zur Arbeit geht. Die Meteorologen schreiben in der Zeitung von Aufhellungen im Verlauf des Tages und versprechen für den Nachmittag die ersten Sonnenstrahlen." (Josef Bichler, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 30./31.05. & 01.06.2009)