Ma Nischtanah? Was ist heute anders? Diese Frage stellen jüdische Kinder, gemäß einem viele Jahrhunderte alten Ritual, jedes Jahr zum Pessachfest aufs Neue den Erwachsenen. Was hat sich geändert - fragt man sich, angesichts der jüngsten antisemitischen Vorfälle in Österreich und der Kontroverse um den FPÖ-Nationalratspräsidenten Graf.
Eigentlich ist es sehr klar: Martin Graf hätte nie zum Dritten Nationalratspräsidenten gewählt werden dürfen, seine Gesinnung und sein Umgang war allen bekannt. Es wäre für die demokratische Kultur in Österreich ganz wichtig gewesen ihn einfach nicht zu wählen.
Wenn jetzt vor allem die ÖVP davon spricht, sie wolle keine "Anlassgesetzgebung" um die Abwahl Grafs zu ermöglichen, ist dies doppelter Hohn: Sie selber war es, die ja genau diesen unerfreulichen "Anlass" herbeiführte. Indem sie Graf, gemeinsam mit der SPÖ - trotz seiner offensichtlichen Untauglichkeit für eines der höchsten Ämter der Republik - wählte.
Aber ist da wirklich etwas Neues im Gange?
Die Feststellung - so schlimm sei es in der Geschichte der Zweiten Republik noch nie gewesen - begleitet mich seit meiner Kindheit. Mitte der 70er Jahre war im Zuge der so genannten Kreisky-Wiesenthal-Affäre, eine deutlich antisemitisch gefärbte Diffamierung von Wiesenthal im Gang. Da entdeckte ich bei den jüdischen Hochschülern ein Flugblatt, welches ungefähr mit den Worten begann: "Derzeit beobachten wir ein noch nie dagewesenes Ansteigen des Antisemitismus". Die Argumentation schien mir durchgehend einleuchtend, bis ich am Ende des Textes eine Datumsangabe aus dem Jahre 1965 fand - es muss wohl ein Flugblatt aus der heißen Zeit der Borodajkewycz-Affäre gewesen sein.
Hetze gegen Wiesenthal
Hauptverantwortlich für die Hetze gegen Wiesenthal war jedenfalls 1975 die SPÖ. Ihr damaliger Klubobmann, der heutige Bundespräsident Heinz Fischer, profilierte sich zu jener Zeit mit der Forderung nach einem Untersuchungsausschuss gegen Wiesenthal.
Die SPÖ unter Kreisky hatte ganz offen begonnen, das Nazi-Lager hoffähig zu machen und nahm 1970 gleich einmal vier Minister mit Nazi-Vergangenheit in die Regierung Kreisky I. Dies nach einer Nationalratswahl, in der die ÖVP andererseits ihren Spitzenkandidaten Josef Klaus mit der Bezeichnung "Ein echter Österreicher" plakatiert hatte, um gegen den jüdischen Bruno Kreisky zu gewinnen.
Im Jahr 1980 der nächste Höhepunkt: Obwohl mit Willfried Gredler ein FPÖ-Kandidat gegen Rudolf Kirchschläger antrat, gewann der ebenfalls kandidierende notorische Rechtsextremist Norbert Burger unfassbare 140.000 Stimmen. Eine große Verunsicherung in- und außerhalb der jüdischen Gemeinde war die Folge. Nur drei Jahre später erregt die Bestellung von Harald Ofner zum Justizminister große Besorgnis, da sich bekannte Neonazis auf persönliche Beziehungen zu ihm beriefen. In die Regierung geholt hatte ihn und andere FPÖ-Minister die SPÖ.
Mit Handschlag nahm 1984 der FPÖ-Verteidigungsminister Frischenschlager den soeben freigelassenen NS-Kriegsverbrecher Walter Reder im Namen der österreichischen Bundesregierung in Empfang und sorgte damit für den nächsten Aufruhr. SS-Sturmbannführer Reder war der Verantwortliche des Massakers in Marzabotto (Italien), bei dem 1830 Zivilisten ermordet wurden.
Wohl etwas eilfertig oder naiv war Frischenschlager davon ausgegangen, im Interesse aller Parteien zu handeln. Schließlich hatte seinerzeit der SP-Innenminister Helmer durchgesetzt, dass Reder 1955 - also bereits als abgeurteilter Kriegsverbrecher - wieder die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen wurde, obwohl er sie selber 1934 abgelegt hatte.
Anfang der 60er Jahre erklärte die damalige rot-schwarze Regierung Reder zum Kriegsgefangenen im Sinne der Genfer Konvention. Privat untergebracht und versorgt wurde der SS-Mann nach seiner Freilassung dann schließlich vom ÖVP-Nationalratsabgeordneten Wilhelm Gorton.
2000 gleich 1938?
In den Diskussionen um Waldheim wurde ganz offen mit dem Anstacheln von antisemitischen und xenophoben Gefühlen Politik gemacht. Dies sei bisher in der Geschichte der Zweiten Republik einmalig gewesen, wurde festgestellt. Der Spiegel titelt 1987: "Österreichs Juden haben wieder Angst".
Nach der Installierung der schwarz-blauen Regierung berichtete Präsident Muzicant in einer international viel beachteten Pressekonferenz von einem dramatischen Anstieg antisemitischer Übergriffe. Der Vorstand der jüdischen Gemeinde tagte in einer Dringlichkeitssitzung. Die Anspannung ob der neuen politischen Situation Österreichs war mit Händen zu greifen. Tenor der Sitzung die Frage: Ist 2000 gleich 1938? Sollten die Mitglieder der Gemeinde rechtzeitig zum Verlassen des Landes aufgefordert werden?
Der schrille Alarm Muzicants - damals wie heute - hat vor allem mit seinem Amtsverständnis als Präsident der jüdischen Gemeinde zu tun, bzw. entspricht seinem persönlichen Stil. Er weiß damit aber auch einen beträchtlichen Teil der jüdischen Gemeinde hinter sich.
Was ist heute anders?
Österreich tat sich immer schon schwer mit einem Bekenntnis zu seiner Mitbeteiligung an der Shoah und einer klaren Abgrenzung gegenüber alten und jungen Nazis. Darüberhinaus ist es einfach ein Faktum, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil der Österreicher mehr oder weniger starke antisemitische Gefühle aufweist. Der Prozentsatz variiert im Wesentlichen nur durch die Art der Fragestellung bzw. Untersuchungsmethode, nicht jedoch - wie oft gehofft - im Verlauf der Zeit.
Dementsprechend verlockend war immer die Versuchung, mit den antisemitischen Gefühlen in der Bevölkerung Politik zu machen. Die FPÖ macht dies jetzt ganz offensichtlich; aber die ÖVP und die SPÖ immer wieder ebenso. Daher die Frage: Ma Nischtana? (Martin Engelberg, DER STANDARD-Printausgabe, 30./31.5./1.6.2009)