Willkommen in Macondo: Wer durch den Spalt in der gelben Wellblechmauer geht, landet in einer vollkommen anderen Welt

Foto: Laurent Ziegler, www.unstill.net

Der Garten von Macondo, eine eigene Welt, von außen kaum einsehbar.

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Rund um den Container von Cabula 6 war von April bis Ende Mai eine Menge los.

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Und gezeigt, dass ein Dialog zwischen den Kulturen möglich ist.

Die Fahrt nach Macondo ist eine Fahrt an den Rand der Stadt. Dorthin, wo man sonst nur fährt, wenn man zum Flughafen will oder das Auto abgeschleppt wurde. Vorbei an den schreienden Plakatwänden, die für hier ansässige Großmärkte werben, vorbei an gläsernen Gewächshäusern, immer weiter den hoch aufragenden Starkstrommasten nach. Sie führen direkt nach Macondo.

Macondo. Das klingt nicht nur wie aus einem Roman von Gabriel García Márquez, sondern der Name kommt auch von Márquez. In Hundert Jahre Einsamkeit schreibt er: "Macondo war damals ein Dorf von zwanzig Häusern aus Lehm und Bambus am Ufer eines Flusses mit kristallklarem Wasser ... Die Welt war noch so jung, dass viele Dinge des Namens entbehrten, und um sie zu benennen, musste man mit dem Finger auf sie deuten."

Macondo also.

Die Siedlung am Rande der Stadt Wien besteht weder aus Häusern aus Lehm, noch fließt hier ein kristallklarer Fluss. Im Gegenteil: Eingebettet zwischen Flughafen, Autobahn und städtischer Kläranlage hat dieser Ort auf den ersten Blick wenig Romantisches. Trotzdem hat ein unbekannter mexikanischer Schriftsteller, der vor vielen Jahren kurz in dieser Siedlung in der Simmeringer Haide landete, dem Platz diesen Namen gegeben. Vielleicht weil diese Siedlung tatsächlich ein Dorf ist und zumindest damals noch keinen wirklichen Namen hatte. Denn wie dieser Ort offiziell heißt, ist bis heute nicht ganz klar. "Kaserne Zinnergasse" oder einfach "Die Zinnergasse". Oder eben Macondo. Auf jeden Fall leben in den Gebäuden dieser ehemaligen k. u. k. Kaserne seit Mitte der 1950er-Jahre Flüchtlinge, die in Österreich Asyl bekommen haben. Zurzeit sind das zwischen 2000 und 3000 Menschen aus 22 Ländern, die hier in mehr als 500 Wohnungen leben.

Fragt man in Wien nach Macondo, weiß kaum jemand, dass es einen solchen Platz überhaupt gibt. Wer mit dem Auto unterwegs ist, verliert sich spätestens irgendwo zwischen Kläranlage und Großmärkten und landet dann auf dem Metro-Parkplatz. Aber das ist gut. Denn dort ganz hinten steht eine leuchtend gelbe Wellblechmauer, und in dieser befindet sich ein Spalt – zu schmal für einen Einkaufswagen, aber breit genug für einen Menschen, da durchzugehen. Willkommen in Macondo!

Hinter diesem Spalt öffnet sich ein Garten, eine vollkommen andere Welt. In dieser Welt, gleich neben dem verwilderten Fußballfeld, warten Claudia und Jeremy. Claudia Heu (37) und Jeremy Xido (42) sind Künstler, die gemeinsam die Performance-Company Cabula 6 leiten. Seit 2006 beschäftigen sie sich mit Macondo, dem Ort und seinen Menschen. Seit November 2008 leben die beiden sogar hier – für das Projekt mit dem schönen Titel Life on Earth hat ihnen die Stadt Wien eine der freistehenden Flüchtlingswohnungen zur Verfügung gestellt. Ihre aktuelle Adresse noch bis Juli: Zinnergasse 27, Appartement 32.

Die Wohnung hat 50 Quadratmeter, einen kleinen Vorraum, ein Bad mit WC, einen größeren Raum mit Küchenzeile, einen kleineren Schlafraum nebenan. Für etwas in dieser Größe zahlen Flüchtlinge in Macondo rund 380 Euro im Monat. Ihr "Life on Earth" findet in einer bunten Nachbarschaft statt. Die Familie links neben dem Apartment kommt aus Somalia (5 Kinder), die rechts aus dem Irak (ein Ehepaar). Im gleichen Stock wohnen noch Tschetschenen (deren Anzahl Claudia nicht weiß), Leute aus dem Kongo (Jeremy kennt einen), Ungarn (eine alte Frau, deren Familie sie oft besucht) und Kameruner (Familie mit drei Kindern). Mit der Familie aus Chile im ersten Stock sind sie enger. Heute morgen hat ihnen ein afghanischer Junge frisch gebackenes Brot seiner Mutter gebracht. An der Wand im Wohnzimmer hängen viele Macondo-Fotos: Menschen vor einem gelben Haus, schwarze Buben beim Fußballspielen, verschleierte Mütter auf dem Spielplatz, asiatische Familien im Vorgarten, Männer, die gemeinsam mitten im Schnee um einen Container stehen.

Der Blick aus ihrem Wohnraum im zweiten Stock fällt genau auf diesen Container, der im März hier im Garten aufgestellt wurde. Nur der Schnee ist mittlerweile geschmolzen, in der warmen Jahreszeit wird Macondo zu einer Oase.

Rund um diesen Container (mit Bühne und Kaffeetheke) haben von April bis Ende Mai über Wochen zahlreiche Veranstaltungen von Cabula 6 stattgefunden: Vernissagen, Feste, Konzerte, Sing- und Tanzwettbewerbe und freitagabends immer ein Open-Air-Kino – unter reger Teilnahme der Macondo-Bewohner, aber auch von Gästen aus der Stadt. "Was wir hier machen, ist eine Art Intervention", sagt der gebürtige Detroiter Jeremy Xido mit seinem lustigen US-amerikanischen Akzent. Dann schenkt er Tee nach. Über dem großen Esstisch liegen lose Blätter verstreut, so genannte Mind-Maps, Zeichnungen verschiedener Macondo-Bewohner, die hier gemeinsam mit den Künstlern "ihr Macondo" zu Papier gebracht haben. "Wir wollen Dialog herstellen", sagt Jeremy. Das Mind-Map-Projekt ist als Work in Progress angelegt. Bei der Vernissage, die Anfang April stattfand, wurde ein riesiges Plakat aus allen Beiträgen zusammengestellt und in der 73A-Busstation Zinnergasse, Kaserne ausgestellt. Dort wiederum konnten weitere Bewohner die Macondo-Landkarte mit persönlichen Einträgen erweitern. Irgendwann soll ein Buch entstehen. Die Idee dahinter, so Claudia Heu: "Die Menschen von hier sollen sagen können: Schaut, aus dieser Geschichte kommen wir!"

Macondo ist ein hochkomplexer Mikrokosmos. Wie Jahresringe auf Baumstämmen haben hier die einzelnen Flüchtlingswellen über Jahrzehnte ihre Spuren hinterlassen. Die Ungarn- und Tschechoslowakei-Flüchtlinge aus den 50er- und 60-Jahren leben in den vorderen Teilen der alten Kasernenbauten. In der Mitte der Siedlung liegen mehrere Reihen ebenerdiger Bungalows, die in den 70er-Jahren gebaut wurden, vor allem für Chilenen, die vor Pinochet flüchteten, und die vietnamesischen Boat-People. Seit mehr als zehn Jahren steht das Gelbe Haus, wie es von allen genannt wird, das Kardinal-König-Integrationshaus, und ganz hinten im rückwertigen Teil der Siedlung gibt es noch einmal drei weitere Wohnblocks mit bunten Fassaden, die zuletzt gebaut wurden – für die jüngeren Flüchtlingsgenerationen, sprich Menschen aus Bosnien, Afghanistan, aus Somalia, aus dem Iran oder aus Tschetschenien, die heute zahlenmäßig am stärksten in Macondo vertreten sind.

Tatsächlich verläuft eine unsichtbare Demarkationslinie zwischen einem alten und neuen Macondo irgendwo zwischen dem Gelben Haus und den Bungalows und trennt die Flüchtlinge in jene mit einem Bleiberecht in ihren Wohnungen und jene, die hier nur drei bis fünf Jahre bleiben dürfen. Claudia sagt, man könne im hinteren Teil der Flüchtlingssiedlung die Angst und Unsicherheit förmlich riechen: "Da schwebt alles, während die Welt vorn heiler ist."

Bei beiden Künstlern ist der Sog spürbar, den dieser Platz auf sie ausübt. Angeblich hat einmal ein Schriftsteller ein Zeitungsprojekt gemacht, indem er die "Nachrichten aus Macondo" an eine Wand schrieb, erzählen sie. Auch soll einmal ein Österreicher in einem Zelt gelebt haben, der vorher in Chile im KZ war. Es soll auch eine Disco für Jugendliche gegeben haben, die sie sich selbst gebaut haben. Und das Müllproblem lösen die Bewohner, indem sie illegal einen Müllplatz einrichten. Ach ja, wo heute das Gelbe Haus, das Integrationshaus der Stadt Wien, steht, war früher dichter Wald, dort haben die Kinder gespielt, die heute längst erwachsen sind. Angeblich gab es auch Wildschweine in Macondo.

Der Dialog mit den Macondo-Menschen und deren Mind-Maps macht klar, dass dieser Platz unendlich viele Geschichten zu erzählen hat – und Claudia und Jeremy haben über die Monate viele aufgelesen. Am Anfang des ganzen Projekts aber stand Ramon Villalobos, Chilene und Pinochet-Opfer vom 11. September 1973, der 1975 nach Österreich kam. Claudia Heu lernte den Nachtportier aus dem Museumsquartier 2003 ebendort kennen, war fasziniert – und ließ sich von ihm seine Lebens- und Fluchtgeschichte erzählen. Sie war der Ausgangspunkt für die Macondo-Projekte von Cabula 6.

Am Anfang war Ramon

Ramon sitzt hinter dem fertiggestellten Container im Garten von Macondo, an dem er mitgebaut hat. Es ist wärmer geworden. Dennoch trägt er ein langes schwarzes Polo-Shirt. Seine Ledertasche hängt quer über seinem Oberkörper, er hat die Hände verschränkt und lächelt scheu: "Mir ist immer kalt", sagt er. Trotz seiner weißen Haare wirkt er fast alterslos. Als er nach Österreich kam, war er "30 Jahre und 9 Tage alt", sagt er und erzählt von seiner Emigration nach Österreich, wie schnell er gute Arbeit als Schweißer fand, seinen mittlerweile vier erwachsenen Kindern, die alle Jobs haben und in den verschiedenen Bezirken leben und von der Trennung von seiner ersten Frau nach 34 Jahren und seiner neuen Frau aus Nicaragua, für deren alte Heimat er Geld spendet. Und dann erzählt er natürlich von dem Tag, als die Tanzquartier-Besucher im Rahmen der Cabula-6-Performance (So ist das Leben, 2006), in der Ramon sein Leben erzählte, mit dem Bus nach Macondo gefahren wurden und hier plötzlich in seiner Welt landeten und im Garten der Familie Villalobos ein Fest feierten: "Der Bus ist um Mitternacht wieder nach Wien gefahren – ohne einen einzigen Fahrgast." Auf dem Heimweh zeigt er seinen Garten und die Wohnung in einem der ebenerdigen Reihenhäuser. Dort sammeln sich alter Trödel und Antiquitäten aus seiner Zeit als Flohmarkthändler: "Wenn ich nicht aufpasse, tragen mir die Kinder alles raus", sagt er. Heute lebt er hier allein mit seiner zweiten Frau. Warum er dieses Flüchtlingsdorf nie verlassen hat, weiß er nicht. Allein die Frage ist ihm so nie in den Sinn gekommen. Aber er sagt: "Unser Status als Flüchtling ist für immer!" – so als lägen zwischen seiner Emigration aus Chile und heute keine 36 Jahre. Er ist hier zu Hause.

Wer gemeinsam mit Claudia und Jeremy durch diesen verwunschenen Garten Macondo spaziert, dem wird klar, dass allein die Präsenz der Künstler etwas bewirkt hat für diesen Ort. Immer wieder werden sie von Kindergruppen umringt, von Frauen mit Kinderwagen gegrüßt oder von jemandem etwas gefragt: Kommst du da mit? Weißt du das? Seid ihr dann da? Sie haben sich zu einer kleinen Drehscheibe zwischen den Kulturen entwickelt.

"Hallo Karli!", sagt Claudia, als ein älterer Mann sie begrüßt. Karli (78), Ungar mit österreichischer Staatsbürgerschaft, kam Ende der 50er-Jahre nach Österreich und lebt bereits seit dem 2. Mai 1960 in Macondo. Früher gab es hier an die 3000 Ungarn. "Heute so viele Nationen ist da", sagt er und fährt mit seinem Arm ausladend über das ganze Gelände: "Hier war alles Brachland", sagt er mit dem Stolz eines Großgrundbesitzers. Er schaut in seinen Kleingarten: "Mit dieser Wäscheleine hat alles begonnen." Die Menschen brauchten einen Platz, um Wäsche aufzuhängen. Karli war Fernfahrer, in seiner Freizeit hat er Erde nach Macondo gebracht, damit aus diesem Land ein Garten wird. Sie haben Büsche aus dem Wald geholt und angepflanzt. Jetzt steht da ein kleines Gartenhaus aus Holz, Tulpen blühen. 1975 gab es hier nur zwei Gärten, erinnert sich der alte Ungar, der, wie die meisten seiner Landsleute in Macondo, entweder wieder weg oder bereits in Pension gegangen ist. Irgendwann waren es an die vierzig Kleingärten, die es hier gab. Den Rest seiner Pension wird Karli allerdings nicht in "seinem Garten" verbringen. "Jetzt müssen wir zahlen", sagt er und schaut zu Boden. Die Kosten, die die verantwortliche Bundesimmobiliengesellschaft (BIG) plötzlich angesetzt hat, sind zu hoch für die Leute hier. Mit Kaution, Voraus- und Nachzahlungen kommen die Kleingärtner auf eine Summe von 3000 Euro. Die meisten haben die Gärten schon aufgegeben und lassen sie verwildern. Das wird auch Karli blühen, im nächsten Jahr.

Nicht automatisch solidarisch

In diesem Dschungel, dem Areal von nicht einmal einem Quadratkilometer müssen an die 3000 Flüchtlinge aus verschiedensten Ländern zusammenleben. "Flüchtlinge sind nicht automatisch solidarisch", sagt Philippa Wotke, Leiterin des Kardinal-König-Integrationshauses, "hier gibt es auch Konflikte, vor allem zwischen Schwarzen und Tschetschenen." Von ihrem Besprechungsraum im Erdgeschoss sieht sie raus auf den Spielplatz vor dem Gelben Haus, Kinderstimmen dringen durch das geschlossene Fenster. Auch Jugendliche würden hier manchmal Probleme machen. "Viele erinnern sich an ihre Heimat und sind hier noch nicht integriert." Wotke vergibt die 42 sogenannten "Startwohnungen" (30, 50 oder 60 Quadratmeter) an Flüchtlinge, die sich freiwillig zu einem Integrationsprogramm melden, das heißt: sich sozialarbeiterisch betreuen lassen, sich zu einem halbjährigen Deutschkurs verpflichten und dafür Wohnraum günstiger und Unterstützung bei der Arbeitssuche erhalten. Gerade gibt eine tschetschenische Frau den Wohnungsschlüssel Frau Wotke zurück, die Einzimmerwohnung ist leer, alle Möbel sind ausgeräumt, Tageslicht durchflutet den Raum, der Kühlschrank ist ausgesteckt.

Ein Bleiberecht gibt es heute nicht mehr, da haben sich die Zeiten geändert, das bleibt ein Privileg der alten Macondo-Bewohner. "Es gibt Leute, die sind heilfroh, aus diesem Flüchtlingsghetto rauszukommen, die sehen diesen Ort als Stigma", erzählt Philippa Wotke über ihre Erfahrungen, "andere fühlen sich hier durch das Netz aufgehoben und sehr wohl." Viele, die zuerst im Gelben Haus wohnen, ziehen später um in eine der befristeten Wohnungen in Macondo.

Gulalai Suhaili zum Beispiel. Die Afghanin lebt schon seit fünf Jahren mit Mann und Kindern in Macondo, erst im Gelben Haus, jetzt im Wohnblock A, Erdgeschoß. Von ihrem Wohnzimmer schaut sie raus, hat einen Überblick auf die Wiese, auf den ganzen Vorplatz, links auf der Straße steht ein Bus, einer von zwei fahrenden Supermärkten, die hier herkommen, umringt von Menschen, die Lebensmittel einkaufen. "Ich habe mich so gefreut, dass es hier so international ist", sagt Gulalai und zeigt die nette Zahnlücke zwischen ihren Schneidezähnen, ihre langen dunklen Haare sind zu einem Zopf gebunden. Sie sitzt auf einem der beiden blauen Ledersofas im Wohnzimmer, ihr Zuhause ist aufgeräumt, auf dem Sofatisch steht ein Partyteller mit verschiedenen Nüssen. "Ich habe zwei Kinder, ich bin da wie Europäerin", sagt sie. Gulalai spricht gut Deutsch, sie hat in Kabul Biologie studiert, später auch in der Ex-DDR, in Leipzig und Halle, alles natürlich bevor sie geheiratet hatte.

Ihr Mann war Ingenieur, hatte politische Probleme mit den Taliban. "Wir haben viel Krieg erlebt", sagt Gulalai, sie sähe deshalb auch viel älter als 49 Jahre aus, sagt sie selbst. Sie mussten sich, bevor sie flüchten konnten, im Gebirge verstecken. Ihr 82-jähriger Vater und zwei Schwestern leben heute noch in Kabul. Der Mann kam zuerst nach Norwegen, wo auch eine Schwester von Gulalai lebt, und landete schließlich in Österreich, wohin er seine Familie nachholte, nachdem er Asyl bekam. "Hier gibt es Licht, eine Dusche, warmes Wasser. Ein besseres Essen, ein besseres Leben." Im Jänner 2006 wurde Gulalai Österreicherin. Aber in einer Gemeindewohnung würde sie die Isolation fürchten. Sie will in Macondo bleiben: "Wir wollen hier unseren Kindern eine Zukunft geben."

Seit sechs Monaten macht sie am Bifi eine Ausbildung zur Sozialarbeiterin, wochentags fährt sie dorthin mit Bus und U-Bahn. Dabei macht Gulalai ständig so etwas wie angewandte Sozialarbeit, ohne dass es ein Job wäre. In Macondo ist sie zur Integrationsfigur geworden, hilft afghanischen, iranischen und auch tschetschenischen Frauen, wenn sie Probleme haben, begleitet manche sogar ins Krankenhaus, wenn sie ihre Kinder zur Welt bringen. Im Frauenraum, den Philippa Wotke erst vor kurzem eingerichtet hat, ist sie engagiert. Sie hilft auch offiziell beim Übersetzen, kocht für Feste und bekommt dafür auch Honorare. Arbeitslos ist sie trotzdem. Genauso wie seit kurzem auch ihr Mann. Die Wohnung in Macondo haben sie noch bis Ende September.

Unsichtbarkeit ist kein Schaden

Das Leben in Macondo ist von außen kaum einsehbar. Wer draußen an den mächtigen Kasernenbauten vorbeigeht, würde drinnen niemals eine solche Vielfalt vermuten, Menschen die sicherlich das Gesicht einer Stadt, an deren Peripherie sie aufwachsen, verändern. Viele würden Macondo als Beispiel missglückter Integrationspolitik betrachten. Aber so einfach ist das nicht. Viele fühlen sich hier wohl. "Diese Unsichtbarkeit ist nicht unbedingt nur ein Schaden", sagt Frau Wotke sehr ernst, "sie schützt die Menschen hier auch." Dennoch liegt der Gedanke nahe, dass es nicht bloß Zufall ist, dass seit mehr als 50 Jahren ein Großteil der Wiener Flüchtlinge sprichwörtlich am Rand dieser Stadt, dieser Gesellschaft leben – und somit kaum in den Fokus der Aufmerksamkeit rutschen. Positive Asylbescheide werden, laut UN-Flüchtlingshochkommissariat ohnehin weniger. 2008 bekamen deutlich weniger Menschen (2700) in Österreich Asyl als im Vergleichszeitraum 2007 (3600 Anerkennungen). Die Anerkennungsrate bei Tschetschenen fiel sogar von 83,5 auf 49,5 Prozent zurück.

Aber zumindest die Flüchtlinge aus Macondo, die dürfen bleiben. Und jetzt, am Ende des Kunstprojekts, sind sie alle noch einmal zum Container gekommen, Kinder und Jugendliche, schwarzafrikanische Mädchen und tschetschenische Buben, Frauen mit Kopftuch und ohne, eine alte Ungarin und Gulalai, sogar die Integrationshaus-Leiterin Philippa Wotke, Karli, der alte Ungar und sein Freund Herr Kovac – und Ramon natürlich auch.

Es ist fast 19 Uhr, es sind mehr als 20 Leute, und während in Wien an diesem Mittwochabend im Mai interessiertes Publikum ins Tanzquartier strömt, haben sich die Macondo-Bewohner getroffen, um gemeinsam mit Claudia und Jeremy nach Wien zu fahren, ins Zentrum der Stadt, wo sie kaum jemals hinkommen. Während der Bus hinter der gelben Wellblechmauer die Leute einsammelt und diese wilde Mischung in das Museumsquartier spült, wird unterdessen im Tanzquartier bereits auf Hochtouren gearbeitet. Die Trennlinien zwischen Zuschauern und Akteuren haben sich längst aufgelöst, und die ursprünglichen Theatergäste lernen in einem schnellen Crashkurs "Wie empfängt man einen Gast?", tschetschenische, afghanische, ungarische und chilenische Speisen zuzubereiten. Die afghanischen Burlani zum Beispiel werden hier nach einem Rezept von Gulalai Suhaili zubereitet. Als das Essen fertig ist und der Tisch für die Gäste festlich gedeckt ist, setzen sich alle und warten, gespannt.

Von draußen ist die laute Stimme von Jeremy zu hören, der die kleine "Reisegruppe" durch das Museumsquartier führt und den Menschen die Geschichte von Ramon und Claudia erzählt und wie Cabula 6 schließlich in Macondo landete. Drinnen im Saal: Stille. Irgendwann stehen dann alle, wie auf einer Bühne, vor dem Tanzquartier-Publikum. Lichtspot. Trommelwirbel: "Ladies and Gentlemen, diese Menschen haben einen weiten Weg hinter sich. Sie kommen aus Macondo. (Und zu den Leuten aus Macondo): Und diese Menschen hier, das Publikum, hat heute für Sie gekocht, nach Ihren eigenen Rezepten!

Applaus!

Dann geht alles sehr schnell, Tische werden zu einer großen Tafel montiert, Menschen essen gemeinsam. Und jene vom Rand stehen plötzlich im Zentrum. Es geht um ihre Geschichten.

Zum Glück haben ihnen ein paar Menschen die Chance gegeben, sie zu erzählen. (Mia Eidlhuber, DER STANDARD Print-Ausgabe, 30./31.05.2009)