Ernesto Cardenal: "Moralischer Maßstab ging verloren."

Foto: Standard/cardenal-Fischer

Mit Nicaraguas Sandinisten ist er über Kreuz, der Einsatz für die Armen geht weiter.

Wien – Höchstes Lob zollte Prälat Joachim Angerer am Sonntagabend Ernesto Cardenal, dem 84-jährigen Poeten und Priester-Politiker aus Nicaragua. Anlässlich von dessen Ehrung für seinen Einsatz für die Armen mit dem österreichischen GlobArt Award in der Wiener Wotruba-Kirche sagte Angerer zu Cardenal, der einst vom Papst wegen seines Engagements für die Sandinisten öffentlich gemaßregelt worden war: "Wäre ein Mann wie Obama Papst, dann wären Sie Kardinal."

Ein Wunder im Weißen Haus

Vom Standard nachher gefragt, was er von US-Präsident Obama halte, sagte Cardenal: "Er ist eine sehr erfreuliche Persönlichkeit, in den USA bewirkt er große Veränderungen. Inzwischen unterstützen ihn sogar Menschen, die ihn nicht gewählt haben. Manche vergleichen ihn schon mit Abraham Lincoln. Ein Schwarzer im Weißen Haus – das ist ein Wunder."

Auf die Standard-Frage, wie er heute die vor 30 Jahren siegreiche sandinistische Revolution gegen die mit den USA verbündete Militärdiktatur in Nicaragua einschätze, sagte Cardenal: "Es war ein grandioser Triumph, doch dann wurde die Revolution von den USA unter Präsident George Bush, dem älteren, besiegt." In der Zeit der Wahlniederlage des Jahres 1990 hätten "einige der Revolutionsführer ihren moralischen Maßstab verloren. Vor der Übergabe der Macht haben sie sich bereichert und Millionen von Dollars an sich gerafft. Jetzt haben wir wieder diktatorische Züge in der Regierung."

Tiefergehende Frage zu diesem Thema wollte Cardenal nicht beantworten, weil er "dazu nicht die Freiheit" habe, wenn er in sein Land zurückkehren wolle.

Hintergrund dieser Befürchtungen: Als Cardenal Leute aus der Umgebung des Sandinistenchefs Daniel Ortega, der nun wieder Staatspräsident Nicaraguas ist, als "Diebe" bezeichnete, trat er damit eine Welle von Angriffen gegen seine Person und sein Kulturprojekt auf der Insel Solentiname im Nicaraguasee los. Konten wurden gesperrt, E-Mails abgefangen, ein bereits 2005 eingestellter Prozess wieder aufgenommen.

Solidaritätsadressen international bekannter Persönlichkeiten wie der Autoren Mario Vargas Llosa und José Saramago bis zur gebürtigen Nicaraguanerin Bianca Jagger bewirkten, dass die Attacken gegen Cardenal nachließen.

Bei der Ehrung in Wien war davon nicht mehr die Rede. Der Verein GlobArt, eine Plattform für Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft, der Prälat Angerer und der Finanzmanager Stefan Zapotocky vorsitzen, gab Cardenal seine jährliche Auszeichnung ausdrücklich für dessen "engagiertes politisches Auftreten als Befreiungstheologe" und "sein künstlerisches Schaffen als einer der bedeutendsten Schriftsteller Lateinamerikas" . Frühere Träger dieses Awards waren u. a. Yehudi Menuhin, Václav Havel und Riccardo Muti.

An der Feier zwischen den imposanten Betonquadern der von Fritz Wotruba geplanten Kirche nahm auch Kunstministerin Claudia Schmied teil, die Cardenal (Nicaraguas Kulturminister von 1979 bis 1988) als Amtskollegen begrüßte. Worte der Würdigung sprachen auch Freda Meissner-Blau (ebenfalls eine GlobAward-Trägerin) und Adolf Holl, der berichtete, dass sein 1971 erschienenes, rebellisches Buch Jesus in schlechter Gesellschaft sogar in Lateinamerika für Wirbel gesorgt habe.

Holl wurde 1976, Cardenal 1985 vom Priesteramt suspendiert. Im Fall des lateinamerikanischen Poeten im Einsatz für die Armen soll es, wie Prälat Angerer am Sonntag sagte, Papst Johannes Paul II. am Totenbett leidgetan haben, wie er ihn behandelt hatte. (Erhard Stackl/DER STANDARD, Printausgabe, 16.6.2009)