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Ralf Dahrendorfs Denken war von einer Offenheit, die er als Wissenschafter, als Politiker und Berater, als Europäer mit englischer und deutscher Staatsbürgerschaft lebte.

Foto: AP/Keystone, Sigi Tischler

Köln - Es war ein fast derber Begriff, auf den Ralf Dahrendorf kürzlich die Wirtschaftsordnung brachte, der wir die aktuelle Krise verdanken: Im "Pumpkapitalismus" ging es nicht mehr darum, Erspartes zum allgemeinen Wohle weiterzuverleihen. Im Pumpkapitalismus ging es darum, sich eben mal einen Schwung Geld zu besorgen, und dann möglicherweise damit gewinnbringend auf den Niedergang von Firmen zu spekulieren.

Für einen liberalen Denker wie Ralf Dahrendorf können die Konsequenzen daraus nicht in erster Linie auf der Systemebene liegen. Sie können nur von dort kommen, wo Menschen konkrete Entscheidungen treffen, wo Freiheit im Spiel ist, und wo die Freiheit auf eine Ethik verpflichtet ist. In einem seiner letzten Texte hat Dahrendorf deswegen eine programmatische Frage gestellt: Nach der Krise: Zurück zur protestantischen Ethik? Die Antwort konnte nur negativ ausfallen, denn für das fromme Schaffen in der Hoffnung auf eine jenseitige Belohnung fehlt heute vielen Menschen der Glaube.

Die Antwort musste allerdings einen positiven Kern enthalten. Er betrifft den Zeithorizont, den der Pumpkapitalismus immer stärker verknappt hatte. Nach der Krise müsste wieder stärker das mittelfristige Denken das Handeln bestimmen. Die Boni für Manager müssten sich nicht an Jahresgewinne orientieren, sondern an dauerhafteren Kriterien. Und gegenüber dem Interesse der "shareholder" brachte Dahrendorf den Begriff der "stakeholder" ins Spiel, das sind jene Menschen, denen am Gedeihen wirtschaftlicher Unternehmen gelegen sein muss: Mitarbeiter, Zulieferer, Anrainer - auch solche im Ökosystem.

Ralf Dahrendorf, geboren am 1. Mai 1929 in Hamburg, war einer der bedeutendsten Soziologen nach dem Zweiten Weltkrieg. Er entwarf mit dem "Homo sociologicus" ein rollentheoretisches Konzept des Verhaltens der Menschen in sozialen Zusammenhängen, in denen sie immer wieder Kompromisse schließen müssen.

Er dachte schon vor dreißig Jahren über den Übergang von einer Arbeits- in eine Tätigkeitsgesellschaft nach, der ein allgemeines Grundeinkommen zugrundeliegen könnte. Dahrendorfs Denken war von einer Weite und Offenheit geprägt, die er als Wissenschafter und Intellektueller, als Politiker und Berater, als Europäer mit englischer und deutscher Staatsbürgerschaft beeindruckend lebte.

Von Marx nach London

Der Sohn eines Hamburger SPD-Politikers promovierte über das Gerechte im Denken von Karl Marx und ging dann nach England, wo er auch in Soziologie ein Doktorat erlangte. Eine Karriere als Wissenschafter stand ihm offen, aber er machte unvergleichlich mehr daraus. Er ging für die FDP in die Politik, wechselte aber bald aus dem Deutschen Bundestag nach Brüssel, wo er bis 1974 in der EU-Kommission für Bildungsangelegenheiten zuständig war. 1965 vertrat er in einem seiner bekanntesten Bücher die These "Bildung ist Bürgerrecht".

Die Zukunft des Liberalismus war dabei das Thema, das sich über alle seine vielfachen Beschäftigungen hinweg fortsetzte. Noch 2006 beschäftigte er sich in dem interessanten Buch Versuchungen der Unfreiheit mit Figuren wie Isaiah Berlin oder Ernst Jünger, Theodor Adorno oder Georg Lukacs, die jeweils markant unterschiedliche Antworten auf ihre Zeitfragen gefunden haben.

Als Jürgen Habermas kürzlich eine Rede zum 80. Geburtstag von Ralf Dahrendorf hielt, fiel darin auch das Wort vom "Unheroischen unserer eigenen Lebenszeit". Das Kompliment, das sich darin äußerte, könnte größer nicht sein: Ralf Dahrendorf hätte auch angesichts der totalitären Gefahr nicht versagt, der Freiheit nicht abgeschworen. Über Grenzen hieß das vor sieben Jahren erschienene autobiografische Buch des "kämpferischen Intellektuellen" (Habermas). Mittwochabend hat Ralf Dahrendorf in Köln die letzte menschliche Grenze erreicht und überschritten. (Bert Rebhandl, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 19. Juni 2009)