Kommt eine Frau mittleren Alters ins Krankenhaus von McAllen. Sie klagt über Schmerzen in der Brust, zu Hause hatte es Streit mit ihrem Mann gegeben. Die Ärzte lassen nichts aus, was man untersuchen kann, aber nicht muss, vom EKG bis hin zum Einführen eines Herzkatheters. Vor 15 Jahren, geben sie zu, hätten sie die Patientin schnell heimgeschickt, zumal es in ihrer Familie nie chronische Herzprobleme gab.

Sie hat für Wirbel gesorgt, die Fallstudie aus McAllen, einer Kleinstadt an der Grenze zu Mexiko, wo die Straßen staubig sind, aber die medizinischen Kosten pro Kopf die höchsten der USA. Der New Yorker recherchierte, Barack Obama empfahl den Artikel als Pflichtlektüre; den ganzen Mittwoch verwandte er für eine PR-Kampagne, um im Kongress Unterstützung für seine Gesundheitsreform zu erzwingen. Denn wie in einem Brennglas bündelt sich in McAllen, was absurd ist am amerikanischen Gesundheitssystem. Da ist die funkelnagelneue Klinik, die ihre teuren Geräte auslasten will.

Da sind Doktoren, die nicht nur daran verdienen, sondern auch ängstlich darauf bedacht sind, sich abzusichern. Hochspezialisierte Anwälte lauern nur auf Mandanten, die wegen vermeintlicher Unterlassungssünden klagen. Schöpft ein Arzt nicht alles aus, was denkbar ist, und sei es noch so überflüssig, bietet er juristische Angriffsflächen.

Weil McAllen ein krasses, aber irgendwie auch typisches Beispiel ist, explodieren die Kosten. Ergo leisten sich die Vereinigten Staaten das teuerste Gesundheitswesen der Welt, mit Abstand. Fast ein Fünftel des Bruttoinlandsprodukts, exakt 17,6 Prozent, fließt in das, was nicht nur kritische Köpfe den medizinisch-industriellen Komplex nennen. In Österreich sind es zehn, in Großbritannien neun Prozent. Und während die Löhne seit 2000 de facto stagnieren, kletterten die Prämien der Krankenversicherungen im selben Zeitraum um 58 Prozent.

Privater Bankrott

Rund 47 Millionen Amerikaner sind zu arm, als dass sie sich den Schutz leisten könnten. Andere versichern sich nur lückenhaft, weshalb sie, wenn es sie einmal erwischt, oft tief in die eigene Tasche greifen müssen. Nach einer Studie der Universität Harvard geht die Hälfte aller privaten Insolvenzen auf medizinische Notfälle zurück. „Gute Bildung? Ein ordentlicher Job? Das garantiert nichts", warnt Elizabeth Warren, eine der Autorinnen. „Die meisten medizinisch Bankrotten waren Mittelklasse, bevor die Krankheit zuschlug."

Obama schlägt nun vor, alternativ zu den privaten Krankenkassen eine öffentliche zu schaffen. Sie soll die Kosten drücken, indem sie härter verhandelt. Schon jetzt gelingt es Medicare und Medicaid, den staatlich subventionierten Systemen für Rentner und Arme, gegenüber Pharmaherstellern 20 bis 30 Prozent billigere Tablettenpreise durchzusetzen. Das Beispiel soll Schule machen.

Kurzfristig aber wird die Reform etwas kosten, eben weil sie das Heer der Nichtversicherten unters schützende Dach holen soll. Eine Billion Dollar, verteilt auf zehn Jahre, kursiert als Schätzziffer. Zwei Drittel will man durch Einsparungen finanzieren, für den Rest soll der Steuerzahler aufkommen - auch ein Punkt, an dem die Opposition den Hebel ansetzen wird. Egal, bis Dezember will Obama den Kraftakt bewältigt haben, nichts ist innenpolitisch wichtiger für ihn. Nicht die Konjunkturpakete seien die größte Gefahr für Amerikas „fiskalisches Wohlbefinden", sagt er. „Es sind, weit vorne weg, die Gesundheitsausgaben." (Frank Herrmann aus Washington, DER STANDARD, Printausgabe, 26.6.2009)