Die Eltern schulpflichtiger Kinder in England unterhalten sich derzeit nur kurz über Zeugnis und Wetter: Man spricht über die Schweinegrippe - spätestens seit das Gesundheitsministerium die Nation mit alarmierenden Zahlen erschreckte. Binnen einer Woche haben sich rund 55.000 Briten mit dem H1N1-Virus angesteckt, die Zahl der Todesfälle ist auf 29 hochgeschnellt. "Insgesamt könnten 65.000 Menschen sterben", warnt Liam Donaldson, der höchste Gesundheitsbeamte des Landes.

In den schlimm betroffenen Bezirken von Birmingham und Nord-london kennt jeder einen Schweinegrippepatienten. Prominentestes Opfer ist die Gattin des früheren Premierministers, Cherie Blair. Doch nicht immer ist klar, worauf die Diagnose beruht: Allgemeinmediziner verzeichnen zwar bis zu dreimal so viele Anfragen wie sonst im Juli, raten möglichen Kranken aber vom Praxisbesuch ab. "Die meisten haben nur milde Symptome wie Fieber, Kopf- und Gliederschmerzen", sagt Donaldson. Doch inzwischen liegen 650 Patienten im Krankenhaus, dutzende auf der Intensivstation. Und unter den Toten sind ein sechs- und ein achtjähriges Kind: Beide hatten vor ihrer Erkrankung keine anderen Beschwerden. Die Briten sind unsicher: "Die Leute sind verängstigt", weiß Laurence Buckman von der Ärztekammer, "dabei ist das nicht nötig."

Buckmans Kollegen betonen mantraartig: Auch eine normale Wintergrippe tötet tausende Patienten. Das Virus ist bisher vergleichsweise harmlos und zeige keine Anzeichen von Mutation. Großbritannien gelte als gut vorbereitet. Fazit, so der Virologe Hugh Pennington aus Aberdeen: "Es unterscheidet sich nicht von einer Wintergrippe." Auch John Oxford von der Queen-Mary-Universität erwartet "keine große Welle von Todesfällen im Sommer."

Dennoch musste die Regierung jetzt die Einführung einer Grippe-Hotline vorziehen, die erst für den Herbst vorgesehen war. Und Donaldson präsentiert Schreckensszenarien: 65.000 Tote würde die Pandemie fordern, wenn ein Drittel der Bevölkerung erkrankt und die Sterberate bei 0,35 Prozent liegt. "Hoch, aber nicht aus der Luft gegriffen", sagt Donaldson.

Großbritannien galt lange als gut auf die Pandemie vorbereitet: Es gibt genug Vorräte an Medikamenten, um die Hälfte der 60 Millionen Briten zu behandeln. Doch die Behörden agieren widersprüchlich: So wurden Schulen zunächst bei einer Einzelerkrankung zur Schließung aufgefordert und ganze Klassen mit Tamiflu behandelt. Dann sollte das Medikamente nur in besonders schweren Fällen eingenommen werden. Doch ab kommender Woche werden die Tabletten wieder großzügig ausgehändigt. Und da erst im Herbst ein Impfstoff zur Verfügung stehen wird, breitet sich die Krankheit rapide aus - in den Köpfen der Menschen. (Sebastian Borger aus London, DER STANDARD Printausgabe, 18./19.07.2009)