Nur ein kleiner Gedenkstein erinnert an die Niederschlagung des Arbeiteraufstandes, bei der mindestens 26 Menschen starben.

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Die Ereignisse von damals bekommen vor dem Hintergrund der Krise neue Brisanz.

Als Walentina Jewgenjewa am 1. Juni um zehn Uhr in die Arbeit kam, war die Aufregung groß. Tags davor war bekannt geworden, dass die Preise für Fleisch und Milch um 30 Prozent steigen würden. Gleichzeitig wurden den Arbeitern der größten russischen E-Lok-Fabrik Nevz die Löhne um 35 Prozent gekürzt. Die überwiegend jungen Arbeiter der rund 120.000 Einwohner zählenden Provinzstadt Nowotscherkassk litten bereits unter hohen Mieten und unerschwinglichen Lebensmittelpreisen. Sie wussten, dass es so nicht weitergehen konnte.

Das war vor 47 Jahren. Was danach geschah, sollte als der größte Arbeiteraufstand der Sowjetunion in die Geschichte eingehen. Jahrelang wurden die Ereignisse des Sommers 1962 unter den Tisch gekehrt. Erst durch die Perestroika kam ans Tageslicht, was bis dahin nicht gewesen sein durfte.

Den protestierenden Arbeitern schlossen sich hunderte Einwohner von Nowotscherkassk, der Hauptstadt der Don-Kosaken, an. Sie forderten "Fleisch, Butter und Erhöhung der Löhne" und "Macht Chruschtschow zu Fleisch!". Der damalige Parteichef Nikita Chruschtschow ließ den Streik nach zwei Tagen mit Panzern und Scharfschützen beenden. Offiziell sind dabei 26 Menschen ums Leben gekommen. Aber es könnten auch weit mehr gewesen sein, räumen die Mitarbeiter des Nowotscherkassker Museums ein. Erst 1992 wurden die Leichen der Opfer in einem Massengrab entdeckt.

Scheinprozesse

Walentina, die damals als 24-jährige Kranführerin in der Stahlgießerei von Nevz an dem Aufstand teilnahm, könnte eigentlich ein ruhiges Leben führen. Aber die Vergangenheit lässt sie nicht los. Sie war eine von mehr als 100 Fabriksangehörigen, die in Scheinprozessen zu zehn bis 15 Jahren Lagerhaft verurteilt wurden. Die junge Mutter saß fünf Jahre ihrer Strafe in Sibirien ab. Als eine der noch rund 20 Überlebenden des Aufstands möchte sie die Erinnerung an die Ereignisse aufrechterhalten.

In letzter Zeit sei das Interesse an der Ausstellung gewachsen, sagt Olja Maximowna, als sie die Tür zur Ausstellung aufschließt, die Walentina und der von ihr geleitete Fonds organisiert haben. Vergangenen Herbst lenkte ein Artikel in der russischen Tageszeitung Wedomosti die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit wieder auf die Tragödie von Nowotscherkassk.

In dem Kommentar mit dem Titel "Nowotscherkassk 2009" beschrieb der Moskauer Politologe Jewgeni Gontmacher ein Szenario, in dem ein durch die Wirtschaftskrise ausgelöster lokaler Aufstand zu einem Flächenbrand wird und die landesweiten Proteste schließlich Moskau erreichen. Gontmacher und Wedomosti erhielten umgehend eine Verwarnung der russischen Medienaufsicht, weil sie zu Extremismus aufrufen würden

Verstaubte Propaganda

Heute erinnert am Ausgangspunkt der Proteste, der Elektrolok-Fabrik Nevz, nur ein kleiner Gedenkstein an die tragischen Ereignisse von 1962. Sonst dominieren den roten Backsteinbau, auf dem ein Lenin-Kopf prangt, Transparente mit verstaubter Sowjetpropaganda. "Das Ziel unseres Kollektivs: die fehlerlose Qualität unserer Produktion" steht da in großen Lettern geschrieben. Und: "Wir sind stolz auf unsere Fabrik."

An der noch immer größten Produktionsstätte von E-Loks geht die Krise nicht spurlos vorbei. Die Arbeitswoche wurde auf vier Tage verkürzt. Doch dass sich die Geschichte wiederholen könnte, glauben junge Nowotscherkassker nicht. "Den Leuten ging es damals noch viel schlechter", meint Swetlana. Heute seien die Regale voll, und es gebe auch ausreichend Wohnungen. "Früher wurden die Leute gar nicht bezahlt. Jetzt zahlen sie wenig, aber sie zahlen", pflichtet Olja bei.

Die Preise in Nowotscherkassk seien allerdings noch immer zu hoch, klagt Wolodja, der früher einmal als Elektriker bei Nevz gearbeitet hat. Um Möbel zu kaufen, fährt Wolodja daher in seinem 32 Jahre alten Lada, der ihm sonst als Taxi dient, auch schon einmal die 1000 Kilometer nach Moskau. "Sogar in Moskau sind die Möbel billiger als bei uns", sagt Wolodja. (Verena Diethelm aus Nowotscherkassk/DER STANDARD, Printausgabe, 25.7.2009)