Widerstand gegen Polizeigewalt und Aufruf zur Demonstration: Der Tod eines Teenagers im Dezember 2008 in Athen führte zu landesweiten Ausschreitungen.

Einsames Gedenken: Drei Mitstreiter vom "Bündnis gegen Polizeigewalt" vor dem Tatort des Supermarkts in Krems.

Tatort Krems: Zwei Jugendliche brechen in eine Supermarktfiliale ein. Sie sind, abgesehen von einem Schraubenzieher und einer Gartenharke, unbewaffnet. Die durch den stillen Alarm herbeigerufenen zwei PolizistInnen eröffnen das Feuer. Ein 16-Jähriger liegt angeschossen im Krankenhaus, ein 14-Jähriger stirbt. Sie wurden von hinten getroffen.

Bei ähnlich gelagerten Vorfällen von Polizeigewalt gegen Jugendliche in Paris und Athen war zumindest die moralische Schuldfrage schnell geklärt. Halbe Kinder zu erschießen, egal woher sie kommen oder was sie auch getan haben sollen, führte zu großen Wellen öffentlicher Empörung und an die Grenzen gesellschaftlicher Ausnahmezustände: Brennende Autos in den Pariser Vorstädten und Straßenschlachten in halb Griechenland waren die Antwort Jugendlicher auf die Gewalt gegen Jugendliche.

In Österreich bleibt alles anders. Die Wut und moralische Empörung, die allein bei der Schlagzeile "14-Jähriger von Polizei erschossen" hochsteigen sollte, bleibt unterdrückt, wird übertüncht von einer medialen und öffentlichen Diskussion, in der am Ende die Obrigkeit in Form der Beamten als Sieger aussteigt.

Am Image des getöteten Jungen wird indessen gekratzt, ein amtsbekannter 14-Jähriger war er, offensichtlich nichts Gutes hat er im Schilde geführt. Auf die psychologische Verfasstheit des angeschossenen 16-Jährigen wird keine Rücksicht genommen. Angeschossen, Zeuge des Todes eines Freundes, scheint er psychisch stabil genug zu sein, um schon am nächsten Tag zur Tat befragt werden zu können und in Untersuchungshaft genommen zu werden. Wie groß die Fluchtgefahr mit angeschossenen Beinen tatsächlich sein kann, ist hier nur eine Nebensache. Die Beamten seien hingegen nicht vernehmungsfähig und werden einige Tage geschont. Medial wird betont, dass sie professionell und gut ausgebildet seien, und auf eben solche Situationen trainiert wurden.

Wer die Medienberichte weiter verfolgt, beginnt daran zu zweifeln. Bei der nach einigen Tagen endlich stattfindenden Befragung geben die Beamten zu Protokoll, sie wären angegriffen worden. In den Schlagzeilen eine klare Angelegenheit: Aussage gegen Aussage. Wer weiterliest wird stutzig: Die Beamten haben sich bedroht gefühlt und dachten, in dem Gebäude, in das sie wegen eines Einbruchs vordrangen, keine Einbrecher vorzufinden. Sie wurden überraschend angegriffen. Inwiefern entsprechen solche Aussagen einer professionellen Ausbildung?

Wenige hinterfragen

Offen bleibt auch hier die Frage, wie man zwei Angreifern in den Rücken schießen kann? Hierzulande wird dies aber nicht genügend hinterfragt. Stattdessen stellte Michael Jeannée in seiner Kronen-Zeitungskolumne am Freitag nach dem Vorfall fest: "Wer alt genug zum Einbrechen ist, ist auch alt genug zum Sterben."

Auch die Hälfte der Kremser Bevölkerung steht hinter der Polizei. In den Onlineforen und Leserbriefseiten der Tageszeitungen spiegeln sich diese Meinungen wieder: "Wer einbricht muss damit rechnen" und "Selber schuld" sind auch hier der Tenor. Das wirft die Frage auf, womit man eigentlich rechnen muss? Sind in einem Rechtsstaat Erschießungen nicht eher unüblich und muss man in einem solchen nicht eher mit einem Gerichtsprozess rechnen? Warum also reflexartig die bösen Buben verurteilen und die Instanz der Obrigkeit freisprechen - nur weil es das Leben einfach macht?

In Österreich ist vieles möglich, was anderswo auch funktioniert. Korruption und Spitzelaffären werden gerne vertuscht, neoliberale Politik wird widerspruchslos akzeptiert. Es ist aber auch vieles möglich, was anderswo nicht funktionieren könnte. Rechtsextremismus und Rassismus haben auch in den höchsten Ämtern der Republik Platz und einem Nationalratsabgeordneten, der in seiner Jugend an neonazistischen Wehrsportübungen teilgenommen hat, werden diese als "Bubendummheiten" verziehen. Unser 14-jähriger Einbrecher im Supermarkt muss dagegen, wenn es nach vielen Reaktionen geht, mit einer Erschießung rechnen. Auch bei Bubendummheiten gibt es offenbar mehrere Maßstäbe.

Es bleibt die Frage: Warum wurde der 14-Jährige getötet? Hier muss es eine schonungslose Aufklärung geben und keine Vertuschung, wie das so oft passiert. Dann aber kommt die viel wichtigere Frage: Warum werden zwei Jugendliche zu Einbrechern? Was ist in ihrem Leben und in dieser Gesellschaft schief gelaufen? Schuldzuweisungen an die Eltern sind hierbei nebensächlich, es geht um ein Versagen der Gesellschaft.

Letztendlich bleibt aber nur eine Frage: "Wo liegen eigentlich Athen und Paris?" Das soll jetzt keineswegs falsch verstanden werden. Es geht nicht um den Wunsch nach Unruhen und brennenden Stadtteilen. Es geht allein um den Wunsch nach einer Gesellschaft, in der ein Menschenleben mehr wert ist, als Waren in einem Supermarkt. (Wolfgang Moitzi, Sandra Breiteneder, DER STANDARD Printausgabe, 12.8.2009)