
Entertainment, aber mit eingebauten Fallen: Chris Harings & Jin Xings "Lovely Liquid Loft" , zu Gast bei Impulstanz.
Wien - Am Sonntag geht das diesjährige Impulstanz-Festival nach vier Wochen intensiver Programmierung zu Ende. Mit 47 Produktionen von 39 Kompanien bei einer Auslastung der 95 Vorstellungen im Performancefestival von gut 96 Prozent und mit 30.000 besuchten Kurseinheiten im Workshopfestival konnte eine Gesamtbesucherzahl von 90.000 erreicht werden.
Und das, obwohl Intendant Karl Regensburger und sein Team überwiegend kontroversielle Arbeiten zeigten. Mittlerweile haben sich die Wiener Besucher von Tanzstücken also daran gewöhnt, dass es in der zeitgenössischen Choreografie so richtig ans Eingemachte gehen kann. Passé ist das Klischee der artistischen Springturniere bei vernachlässigbaren Inhalten von wohlgeformten, irgendwie aufgeregten Körpern.
Vielmehr ging es bei Impulstanz diesmal darum zu thematisieren, welche Art von politischer Choreografie zeitgemäß ist: die bei Umwelt oder Description d'un combat von Maguy Marin oder die bei Jan Fabres Orgy of Tolerance. Oder Davis Freemans Seitenhieb auf die Mentalität des Investment beziehungsweise Ann Liv Youngs Angriff auf den Rassismus in The Bagwell in me.
In der Frage, wie Gesellschaftskritik heute formuliert werden kann, gehen die Meinungen der Choreografen weit auseinander. Die einen, etwa Fabre, Freeman und Young, glauben, dass die guten alten Mittel der spektakulären und provokanten Direktheit immer noch des Pudels Kern sind. Die anderen arbeiten mit subtileren Strategien: gegen alten Konservativismus und gegen den neueren Neoliberalismus inklusive eines arroganten Boboismus, der seine Verkrustungen hinter einer progressiven Fassade versteckt.
Zur zweiten Gruppe zählen Alice Chauchat & Co. (Love Piece), Xavier Le Roy (Self Unfinished), Michikazu Matsune & David Subal oder Benoît Lachambre mit Louise Lecavalier. Und dazwischen gibt es noch Mischformen wie bei Chris Harings & Jin Xings Lovely Liquid Lounge, Olivier Dubois' Faunes oder bei Superamas, Andrea Bozic oder Pieter Ampe & Guilherme Garrido: Hier wird das Publikum bewusst unterhalten, aber in dieses Entertainment werden verunsichernde Fallen eingebaut.
Noch weiter in ihrer politischen Ambition gehen jene Arbeiten, die direkt auf den Zustand des Zuschauens Einfluss nehmen und diesen als politisches Feld erachten. Dazu gehören das grandiose Stück The Song von Anne Teresa De Keersmaeker, das Love Piece (Chauchat) ebenso wie Mårten Spångbergs Showing Dark, One hour standing for (Matsune/Subal) oder auch Marins deklamatorische Choreografie Description d'un combat.
Genderthemen
Auffällig in dem diesjährigen Festival ist, dass der zeitgenössische Tanz wieder offensiver mit Sexualität und Genderthemen umgeht. Das kann bis zur Penetration auf der Bühne gehen wie bei Ann Liv Young und Jan Fabre oder mit betonter Nacktheit einhergehen wie bei Buffard, Ampe & Garrido oder Delgado & Fuchs. Homosexualität und Queerness sind Diskursfiguren, die bei Dubois und in der Lovely Liquid Lounge ebenso explizit angesprochen werden wie bei David Wampach oder Cecilia Bengolea & François Chaignaud.
Mit Maguy Marins May B (1981), De Keersmaekers Rosas danst Rosas und Mark Tompkins' Empty Holes (beide 1983), Olivier Dubois' Reenactment von Nijinskys L'après-midi d'un faune (1912) und Georg Blaschkes Wiedererweckung des Solos Mensch im Wahn (1929) von dem Österreicher Andrei Jerschik zeigt sich in dem Festival auch ein anhaltendes Interesse am Rückgriff auf historische Materialien.
Neu bei Impulstanz - und zum Teil mit dem Thema des Wiedersichtbarmachens von Vergangenem verbunden - ist das auf Anhieb gelungene Filmfestival "Dancing Pictures" , parallel zur Performance- und Workshop-Ebene. Am Freitag sind noch Arbeiten des Videokünstlers Laurent Goldring zu sehen und am Samstag Filme von Mark Tompkins (jeweils um 19 Uhr im Novomatic Forum).
Impulstanz hat sich auch über die Herausforderungen durch die Kuratierungen von Hortensia Völckers bei den Wiener Festwochen und von Sigrid Gareis im Tanzquartier Wien weiterentwickelt. Seine Identität als Festival, das den großen Querschnitt des Gegenwartstanzes präsentiert, hat sich Impulstanz bewahrt.
Im Verhältnis zu vergleichbaren internationalen Formaten badet das Festival nicht im Retroschick, sondern geht höhere präsentatorische Risiken ein. Das wiederum fordert jene Kuratierungen in Wien heraus, die sich der aktiven Weiterentwicklung der progressiven Choreografie widmen: das Tanzquartier und die brut-Theater in ihrer Rolle als kuratorische Zukunftslaboratorien. (Helmut Ploebst / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 14./15./16.8.2009)