Matthias Horx über die Vor- und Nachteile von Sprachlaboren: "Für uns Schüler war diese Erfindung wunderbar, weil wir in Ruhe unsere Jimi-Hendrix-Kassetten hören konnten."

Foto: derStandard.at/Miljkovic

Theater in den Schulklassen gibt es auch jetzt schon. "Das blöde ist nur, dass es meistens nur einen langweiligen Rollendarsteller gibt - nämlich den Lehrer", sagt Horx.

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Die Geisteswissenschaften an den Universitäten werden in Zukunft nicht aussterben. "Universalistische Bildung ist ungeheuer wichtig."

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Schulnoten seien zwar mitunter wichtig für den innnergesellschaftlichen Diskurs. Allerdings: "Wovon wir uns verabschieden müssen, ist, dass Maturanoten oder gewisse Abschlüsse, ein Urteil über spätere Berufswege sind."

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Ganztagsschulen, die Auflösung des frontalen Unterrichts und eine bessere Lehrerfortbildung. Diese drei Dinge sind notwendig für eine Pädagogik der Zukunft, wenn es nach Matthias Horx geht. "Das Problem unseres Schulsystems derzeit ist, dass es passive, geduckte Menschen entlässt, die es gelernt haben, auswendig zu lernen", sagt Horx über den Status quo. Im derStandard.at-Interview spricht er über die Überbewertung von Schulnoten und darüber, warum sich ein Schul-Unterricht über Videokonferenzen nicht durchsetzen wird. Die Fragen stellte Teresa Eder.

derStandard.at: Herr Horx, derzeit wird hierzulande hitzig über die Schulverwaltung gestritten, dasselbe Theater gab es zuvor bei der Einführung der Neuen Mittelschule. Wird es bildungspolitisch so weitergehen?

Horx: Was wir bei allen Bildungs-Debatten verstehen müssen, ist, wie unser Bildungssystem entstanden ist, nämlich in der Klassengesellschaft des späten 19. Jahrhunderts. Damals hat es die Funktion gehabt, die Menschen in die drei entscheidenden Schichten der Gesellschaft zu sortieren. In die Akademiker und Staatsbeamten – bis vor einem halben Jahrhundert sind mehr als 50 Prozent der universitären Abgänger in den Staatsdienst gegangen, heute sind es noch ungefähr 25 Prozent.

Die Kinder der Händler und Handwerker haben in der sogenannten Mittelschule oder Realschule ihren Bildungsweg beschritten. Die Volksschulen waren für das Proletariat. Und jetzt, Anfang des 21. Jahrhunderts, fällt uns langsam auf, – in Österreich und Deutschland viel zu spät – dass dieses System veraltet ist. Das Modell der Neuen Mittelschule versucht das Bildungssystem durchlässiger zu machen, das muss man anerkennen. Ich glaube aber nicht, dass das das Endprodukt sein wird.

derStandard.at: Derzeit wehren sich beispielsweise viele AHS-Lehrer noch vehement gegen die Neue Mittelschule. Wird sich die Durchlässigkeit im Bildungssystem über kurz oder lang durchsetzen?

Horx: Gewisse Gesellschaften in Europa, die sich auf einen konsequenteren Weg in die Wissensökonomie bewegen als Österreich und Deutschland haben jetzt schon sehr hohe Bildungsquoten. 90 Prozent der 20-Jährigen in Finnland haben eine Matura oder einen Hochschulberechtigungs-Abschluss. Ungefähr 70 Prozent der gesamten jungen Alterskohorte machen dann einen universitären Abschluss. Man kommt dort schon ganz stark in Richtung Hochbildungsgesellschaft. Und das muss man auch, weil uns der Strukturwandel der Globalisierung dazu zwingt, immer hochwertigere Jobs und bessere Qualifikationen zu schaffen. Mit anderen Worten: die einfachen Jobs sterben aus.

derStandard.at: Es könnte sich auf lange Sicht gesehen, rächen, wenn die derzeitigen Reformen blockiert werden.

Horx: Das System in Österreich funktioniert derzeit noch ganz gut. Aber für eine echte Zukunfts-Orientierung müsste auf drei Dinge gesetzt werden. Das erste sind die Ganztagsschulen. Die werden in einer Gesellschaft, in der die Frauen immer besser gebildet sind, notwendig sein. Außerdem kann man ohne Ganztagsschule keine kreative Bildungslandschaft gestalten. Der derzeitige Verschulungseffekt erinnert ans Militär: Sie marschieren eine Stunde lang in einem Fach, dann wird gepfiffen. Dann kommt das nächste Fach und das ist natürlich tödlich für die Lust am Lernen. Weil der Unterricht in einer Art und Weise formalisiert und frontal abläuft, haben die Kinder keine Lust mehr am Lernen. Das kann man nur aufbrechen durch eine Ganztagsschule, in der eine ganz andere Lebenswelt entsteht. Eine, in der die Kinder zu mittags mit den Lehrern essen und Freiräume haben, um sich auch körperlich auszutoben zu können.

Zweitens muss die Frontalität im Unterricht zunehmend aufgelöst werden. Man muss eine Pädagogik entwickeln, in der der Lehrer nicht immer nur alles weiß und die Schüler alles auswendig lernen. Es geht um Selbstlernen, um die Entwicklung von Kreativität. Die Frage der neuen Pädagogik läuft ja darauf hinaus, wie man Neugier als Motiv in den Schulen verankern kann.

Drittens brauchen wir eine Lehrerfortbildung, die deutlich anders ist, als das bis jetzt der Fall ist. Da gibt es wunderbare Beispiele aus anderen Ländern, vor allen Dingen in Kanada. Dort gibt es keinen Lehrer, der seinen Unterricht nicht innerhalb kürzester Zeit wieder neu erfindet und versucht zu verändern. Hierzulande ist es oft noch so: Man hat einen pädagogischen Abschluss und dann zieht man das, was man während des Studiums gelernt hat – oder eben nicht gelernt hat – den Rest der Berufspraxis, durch. Das kann nicht funktionieren. Kein Unternehmen arbeitet heute so. Schulen und Lehrer müssen selbst ebenso weiterlernen wie die Schüler.

derStandard.at: Sie beklagen einen zu stark formalisierten Unterricht. Jetzt wurde dieses Jahr eine Zentralmatura für die wichtigsten Fächer eingeführt, Bildungsstandards sollen überprüfen, inwieweit die Schulen ein gewisses Niveau einhalten. Wird durch Messlatten und einer Standardisierung der individuellen Bildung, die in die Tiefe gehen kann, der Raum genommen? Oder kann beides nebeneinander existieren?

Horx: Meiner Meinung nach widerspricht sich das nicht. Eine standardisierte Überprüfung gibt es ja beispielsweise auch in skandinavischen Ländern. Wie und auf welchem Weg jede Schule solche Ziele erfüllen will, das sollte freigestellt sein, damit Diversität entsteht.

Ich glaube, dass Gesellschaften diese Bildungsstandards brauchen, aber dass wir natürlich gleichzeitig eine starke individuelle Komponente brauchen. Wir brauchen Leistungsschulen, die auf das Individuum zugeschnitten sind. Die Basis-Ressource, um die sich alles dreht, ist das individuelle Talent. Es gibt kein Kind, das kein Talent hat.

Unsere pädagogische Denken ist ja stark negativ, ausgrenzend, geprägt: Das sind die Doofen, die tun wir auf irgendwelche Sonderschulen oder auf die Hauptschule. Und dann gibt's die Klugen, die fördern wir nach oben. Das ist eben ein altes, autoritäres Modell, das so nicht mehr funktioniert, denn in der Wissensgesellschaft gibt es keine Arbeit mehr, für die man nicht bestimmte kognitive und kommunikative Vorussetzungen braucht. Es können sich ja Menschen auch durch handwerkliche Fähigkeiten hochbilden lassen. In Neuseeland haben 60 Prozent aller Bauern ein Marketing-Examen. Die beruflichen Prägungen sind dort kein Ausschlusskriterium für Hochbildung. Wir brauchen eine Erweiterung des Hochbildungsbegriffs.

Wovon wir uns verabschieden müssen, ist, dass Maturanoten oder gewisse Abschlüsse, ein endgültiges Urteil über spätere Berufswege sind. Jeder, der in einem Unternehmen arbeitet, weiß, dass diese klassischen Noten sehr wenig bedeuten. Sie sind eine ungefähre Orientierung, man braucht sie auch für den innergesellschaftlichen Diskurs über Ziele. Aber um zu verstehen, welche Talente ein Mensch hat, sind sie nur begrenzt aussagefähig. Einstein hatte eine 3 in Mathe.

derStandard.at: Die Lehrer beklagen derzeit, dass soziale Fähigkeiten bei den Schülern immer mehr zu Wünschen übrig lassen. Kämpft die Schule hier auf verlorenem Boden? Kann oder muss sie sich in die Erziehung einmischen?

Horx: Erfolgreiche Schulen stellen sich diesem Problem auf neue Weise, indem sie sich mit ihrem sozialen Umfeld aktiv auseinandersetzen. In Skandinavien sind Schulen im jeweiligen Stadtteil und bei der Elternschaft stark verankert. Es gibt dort in praktisch jeder Klasse Laienlehrer, die den professionellen Pädagogen, der dort übrigens sehr viel besser bezahlt wird, unterstützen. Ich als Zukunftsforscher könnte dort zum Beispiel Kurse über Zukunftsforschung geben. Außerdem wird das Engagement der Eltern eingefordert.

Gerade in sozialen Brennpunkten müssen wir natürlich ganz besonders aufpassen, dass die Eltern sich nicht aus der Erziehungsarbeit zurückziehen. Dafür müssen wir in einer Migrationsgesellschaft auch anders mit Sprachen umgehen. Ein neues europäisches Modell, das auf EU-Ebene entwickelt wird, sieht zum Beispiel vor, dass mindestens zwei bis drei Sprachen als Basis in der frühkindlichen Erziehung verankert werden. Ein türkisches Kind wäre dann gut in Türkisch, Deutsch UND Englisch. Das heißt unter Umständen, dass die heute Benachteiligten dann Vorteile haben. Das heißt aber bisweilen auch, dass man eine gewisse Distanz zwischen die Kinder und ihre sozial nicht-funktionalen Elternhäuser bringen muss.

derStandard.at: Welche technischen Entwicklungen werden in die Klassenzimmer von morgen einziehen? Wird der Unterricht irgendwann nur mehr über Videokonferenzen stattfinden?

Horx: Das glaube ich nicht, nach den Erfahrungen, die wir bisher mit elektronischem Lernen haben. Ich selber habe in meiner Schulzeit noch die Sprachlabore miterlebt, wo wir in kleinen Eierkartonboxen saßen und vor uns ein Tonbandsystem hatten, auf dem monoton verlesene lateinische Vokabeln liefen. Dahinter stand die Idee, dass man Schüler durch Elektronik zum Auswendiglernen konditionieren kann. Für uns Schüler war diese Erfindung wunderbar, weil wir in Ruhe unsere Jimi-Hendrix-Kassetten hören konnten. Der Lehrer saß vorne, rauchte, hatte abgeschaltet und es ging ihn alles gewissermaßen nichts mehr an.

Menschen lernen nur gut in aktiven, kommunikativen und aufgeregten Situationen. Dann, wenn soziale Spannung entsteht, wenn unser „mind" hellwach und neugirerig ist, sind unsere Synapsen offen. Ich bin natürlich dafür, dass jeder Schüler einen Laptop hat. Das ist überhaupt nicht die Frage. Aber das erkennende Lernen selbst kann nur sozial verlaufen. Die Wissens-Akkumulation kann dann durch den Laptop erfolgen.

Ins Zentrum einer jeden Schule gehört ein Theater. Ich glaube, das Theater ist die beste Metapher dafür, was in modernen Schulen am Notwendigsten ist. Nämlich die Selbstentäußerung der Schüler. Das Problem unseres Schulsystems ist, dass es passive, geduckte Menschen entlässt, die gelernt haben, auswendig zu lernen und eine Prüfung zu überleben. Aber keine Menschen, die sich ausdrücken können vor einem Auditorium, die ein gutes Selbstwertgefühl entwickeln. Die kreativen Schulen, die ich kenne, haben alle eine Bühne in der Mitte des Gebäudes. Im Grunde genommen ist ja jede Schulklasse eine Art Theater. Das blöde ist nur, dass es meistens nur einen langweiligen Rollendarsteller gibt – den Lehrer.

derStandard.at: Sie sprechen von Hochbildungsgesellschaften, in denen fast jeder hochqualifiziert in seinem Job ist. Warum werden sich diese entwickeln?

Horx: Das ist das Wesen unseres Wirtschaftsprozesses: Die einfachen Arbeiten werden immer mehr maschinisiert oder sie wandern aus. Aus traditionellen Berufen, in denen man das Wissen über Generationen weitergab, werden völlig neue Berufsbilder mit hohen Wandelgeschwindigkeiten. Alle Zahlen zeigen, dass Menchen mit geringen Bildungsabschlüssen die höchste Arbeitslosenquote haben. Alle Erfahrungen zeigen auch, dass, sobald das Bildungsniveau der Bevölkerung massiv steigt, auch eine sehr viel mobilere, attraktivere Arbeitswelt entsteht, in der die Menschen ihren Beruf sehr viel mehr als Teil ihrer Lebensverwirklichung sehen können. Das heißt auch, dass der Druck auf die Billiglöhne steigt. In Helsinki hat McDonalds zum Beispiel Schwierigkeiten, 6,50 Euro-Jobber zu bekommen.

derStandard.at: Derzeit gibt es den Trend zum "Schnell-Studieren", der gewissermaßen auch ein Effekt des Bologna-Prozesses ist. Es gibt kritische Stimmen, die die Etablierung von Bachelor- und Masterstudien gerne rückgängig machen würden. Wird das schnelle, zweckorientierte Studieren wieder verschwinden oder zum Normalfall werden?

Horx: Unser großes Problem ist, dass wir viel zu lange Studienzeiten haben und die Leute dann in einem Alter in den Arbeitsmarkt einsteigen, wo sie im Grunde genommen nicht mehr flexibel genug sind.

Ich glaube, dass die Bildungslandschaft der Zukunft eher so ist, dass man schnelle, kurze Bildungsmodule in den gesamten Lebensverlauf integriert. Dann geht man vielleicht 15 Jahre in den Beruf und danach wieder auf die Uni, um eine weitere Ausbildung zu machen. Das Argument, "wir dürfen solange studieren, wie wir wollen", kann sich eine Gesellschaft nicht mehr leisten. Gerade wenn wir mehr Menschen in die Hochbildung bringen wollen, brauchen wir Geld. Und der Staat hat nicht unendlich viel Geld.

derStandard.at: Von manchen Wissenschaftern kommt Ihnen gegenüber Kritik, Sie würden mit unwissenschaftlichen Methoden arbeiten. Wie definieren Sie denn für sich selbst den Begriff Wissenschaft?

Horx: Wir verstehen Trend- und Zukunftsforschung als eine Erkenntnisweise, in der wir versuchen, Erkenntnisse der einzelnen Teilwissenschaften zu einer Systemwissenschaft zu bündeln, um gewisse Aussagen über Zukunftsentwicklung machen zu können. Wir kombinieren Geschichts- und Gesellschaftswissenschaften mit System- und Spieltheorie, mit Kognitionswissenschaft und Anthropologie und neuen Ansätzen der Verhaltensökonomie. Man kann nicht alle Einzelheiten und „events" voraussagen, aber man kann Evolutionsprozesse innerhalb gesellschaftlicher Systeme besser verstehen lernen.

Das Problem ist, dass dieser universalistische Ansatz natürlich immer den Spezialisten der einzelnen Teil-Wissenschaften auf die Nerven geht, die sich in ihrer Deutungshoheit und Exclusivität angegriffen fühlen. Damit muss man leben. Im Grunde versuchen wir, den Dialog zwischen den verschiedenen Disziplinen in Gang zu bringen, und das in einer Sprache, die man leichter verstehen kann als das Akademische. Ein solcher Versuch wird immer skandalumwoben bleiben, aber davon leben wir. (Teresa Eder/derStandard.at, 27.08.2009)