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Litauen vor 20 Jahren: Die Balten bekunden den Willen zur Unabhängigkeit. Zwei Millionen nahmen an der Kette teil.

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Vilnius/Warschau - "Gestern haben sie in den Straßen von Vilnius getanzt und Geige gespielt" , lautet einer der ersten, erstaunten Tagebucheinträge der Schriftstellerin Laima Vince. September 1988 bis Herbst 1989 verbrachte die in den USA geborene Litauerin als Gaststudentin in Vilnius - und erlebte die sogenannte "Singende Revolution" mit. Einer der Höhepunkte: die 600 Kilometer lange friedliche Menschenkette von Vilnius nach Tallinn im August 1989 anlässlich des 50. Jahrestages des Hitler-Stalin-Paktes, der die drei baltischen Staaten 1939 die Unabhängigkeit kostete.

Vince gibt in ihren vor kurzem in Litauen unter dem Titel Lenin's Head on a Platter veröffentlichten Erinnerungen ein eindrückliches Zeugnis der damaligen Stimmung. Sie erzählt von der Neujahrsnacht 1988/89 irgendwo in der Provinz, wohin sie heimlich fuhr, weil der KGB sie überwachte: Gleichaltrige sitzen dort zusammen, trinken Tee statt Alkohol und singen bis zum Umfallen litauische Volkslieder. Vince beginnt mitzusingen. In der Universität, im Studentenwohnheim, auf Volksversammlungen, auf der Busfahrt zur ersten gesamtbaltischen Versammlung im Mai 1989 in Tallinn mit Vytautas Landsbergis, dem Chef der litauischen Unabhängigkeitsbewegung Sajudis und ersten Präsidenten des unabhängigen Litauen.

Am 24. August 1989 läuft ihr sowjetisches Visum aus und sie muss zurück in die USA. Den letzten Tag verbringt sie singend in der Menschenkette außerhalb von Vilnius, an der insgesamt zwei Millionen Menschen teilnehmen. Sie hätten sich die Hände gegeben, zunächst geschwiegen und dann das Vaterunser gebetet, schildert die Schriftstellerin diesen Tag. Dann wurde gesungen: All die verbotenen und vergessenen Lieder. Hier auf Litauisch, dort auf Lettisch und Estnisch.

Begonnen hatte die "Singende Revolution" in Estland. Dort trafen sich 1987 spontan Singgemeinschaften in den Straßen. Im Mai 1988 wurden auf dem Popfestival von Tartu, der zweitgrößten Stadt des Landes, erstmals traditionelle Volkslieder öffentlich vorgetragen. Im benachbarten Lettland hatte die Postfolk-Band "Ilgi" seit 1981 immer wieder mit der sowjetischen Zensur gekämpft, weil ihre Liedaufnahmen zu wenig fröhlich und folkloristisch waren. Das Liedgut der Sowjetvölker wurde in der UdSSR nur in einer verniedlichten und verkitschten Form ohne spirituelle Tiefe gepflegt. Verbotene volkstümliche Elemente wurden jedoch von einer Reihe von Untergrundmusikern in ihr Repertoire eingebaut, etwa von den Rigaer Punkrockern "Inkontentijs Marpls" . Konzerte mussten in Privatwohnungen stattfinden.

Völlig neu war daher das spontane Singen im öffentlichen Raum. "Junge Leute kamen ohne Parteiorganisation einfach zusammen" , erinnert sich der estnische Ex-Premier Mart Laar. "Sie haben dem Volk eine neue Seele eingehaucht."

Der Westen allerdings reagierte verhalten auf die baltischen Unabhängigkeitsbestrebungen. Einzig Island erkannte am 22. August 1991 die wiederausgerufene Unabhängigkeit Estlands an. In Litauen half selbst das sowjetische Massaker an Zivilisten beim Fernsehturm von Vilnius im Jänner 1991 nicht zu einer schnellen Anerkennung der Unabhängigkeit. (Paul Flückiger/DER STANDARD, Printausgabe, 24.8.2009)