Dr. Christoph Bieber ist Experte für Politische Kommunikation und Neue Medien.

Dr. Christoph Bieber

Der Twitter-Feed des hessischen SPD-Spitzenkandidaten Thorsten Schäfer-Gümbel. Da bereits mehrere falsche Profile unter seinem Namen existierten, fügte er zusätzlich den Untertitel "Das Original" an.

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Das Wahlkampfblog des SPD-Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier.

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Profil der Kanzlerin Angela Merkel (CDU) im sozialen Netzwerk meinVZ. Innerhalb der Aktion "Frag Angie" können User mit ihr in Kontakt treten.

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Das Thema Internetwahlkampf ist im Vorfeld der deutschen Bundestagswahl am 27. September in aller Munde. Ein medial momentan sehr gefragter Experte ist daher Christoph Bieber. Er ist Fachmann für Politische Kommunikation und Neue Medien und lehrt an der Universität Gießen, in Hessen. Mitte der Neunziger promovierte er zum Thema „Politische Projekte im Internet" und ist daran „einfach hängen geblieben".

Obwohl er derzeit bei seinem kleinen Sohn zuhause ist, plant er ein neues Forschungsprojekt: „Es geht um die Motivation von Unterstützern auf Politiker-Profilen in Facebook und anderen sozialen Netzwerken." Außerdem betreut er verschiedene Diplomarbeiten, zum Beispiel über den Einsatz von Twitter in der Politik oder den vergangenen Landtagswahlkampf in Hessen. Und wenn dann noch ein bisschen Zeit bleibt, pflegt er als Ghostwriter den Twitter-Account von seinem Sprössling. „Mit seinen 16 Monaten kann er das noch nicht alleine."

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derStandard.at: Herr Dr. Bieber, sie sind seit den Neunzigern am Thema Internetwahlkampf dran. Inzwischen interessieren sich auch die Medien verstärkt dafür. Wie hat sich die öffentliche Wahrnehmung verändert?

Bieber: Auch wenn momentan ein anderer Eindruck entsteht: Es handelt sich hier um eine langsame und stetige Evolution, keine Revolution. Dass dieses Thema nun auch eine breite Öffentlichkeit interessiert, liegt daran, dass immer mehr Menschen die Techniken der Online-Kommunikation nutzen - und so zur Zielscheibe von mehr oder weniger gelungenen Wahlkampfaktionen im Netz werden.

derStandard.at: Als einer der ersten Politiker Deutschlands hat Ypsilanti-Nachfolger Thorsten Schäfer-Gümbel die Öffentlichkeit per Twitter-Feed an seinen Aktivitäten im hessischen Landtagswahlkampf teilhaben lassen. Auch heute twittert er noch: „Termine, Termine, Termine" zum Beispiel. Gelungen?

Bieber: Es gibt keine Gebrauchseinweisung für die perfekte Kommunikationsstrategie - das ist auch Geschmacksache. Man mag von seinen Tweets halten, was man will: Die Strategie, Schäfer-Gümbel als internetaffinen Politiker zu positionieren, ist jedenfalls aufgegangen.

derStandard.at: Es hieß ja, er habe von Obama abgekupfert.

Bieber: Allerdings zu unrecht, wie ich finde. Obama twitterte sehr unpersönlich und automatisiert, Schäfer-Gümbel kommuniziert weitaus komplexer. Er hat dieses Mischmedium zwischen privater und öffentlicher Kommunikation eigentlich besser verstanden.

derStandard.at: Wie wichtig ist denn Authentizität für den Wähler? Sieht man sich zum Beispiel den Blog von SPD-Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier an, fällt auf: Die vielen Beiträge sind nahezu perfekt aufbereitet, mit unzähligen Verlinkungen - und aus der Ich-Perspektive verfasst. Wahrscheinlich wird er sie aber nicht alle selbst schreiben, oder?

Bieber: In Deutschland besteht immer noch der Zwang, alles selbst machen zu müssen; der erfolgreiche Wahlkampf als Leistung eines Teams existiert nicht in den Köpfen. Obama hat dagegen sehr schnell klargestellt: „Ich habe hier einen harten Job zu machen, natürlich steht ein riesiges Team hinter mir." Das war kein Problem, weil bekannt war, wie sehr er sich für neue Medien interessiert und dass er mit ihnen umzugehen weiß.

Steinmeiers Blog wirkt auf manche vielleicht eher unauthentisch, weil die Beiträge sehr professionell sind, er aber bisher eher als jemand wahrgenommen wurde, der netzfern gearbeitet und gelebt hat.

derStandard.at: Sollte er das Bloggen anders angehen?

Bieber: Das ist schwer zu sagen: Wie man es macht, kann man es falsch machen. Schäfer-Gümbel zum Beispiel hat sehr damit kokettiert, sich mit Social Media kaum auszukennen. Bei ihm war vieles unfertig, die Botschaft lautete: „Wir stürzen uns da jetzt mal rein und experimentieren damit." Das hatte einen gewissen Charme.

Allerdings könnte man das einem Kanzlerkandidaten ganz anders auslegen und kritisieren, dass er sich erst jetzt mit diesen Dingen auseinandersetzt. Die Fallhöhe ist bei Steinmeier viel größer.

derStandard.at: Wenn man im Internet PR-technisch doch mal auf die Nase fällt: ist das schlimmer, als ein verhunztes Interview in der Sonntagszeitung oder ein Versprecher im Fernsehen?

Bieber: Auch die alten Medien sind nicht ungefährlich. Nimmt man zum Beispiel das katastrophale Gespräch vom damaligen CSU-Kanzlerkandidaten Edmund Stoiber mit Sabine Christiansen im Wahljahr 2002 - das wurde immer und immer wieder hervorgeholt. Meistens dauert das solange, bis es eine bessere Performance gibt und der Patzer in den Hintergrund rückt.

Das Internet vergisst aber nicht so leicht, Geschichten sind schwer vorhersehbar und machen sich rasend schnell selbstständig. Videos, wie sie die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth derzeit mit armen, arglosen Wählern auf der Straße dreht, könnten sich noch zu einem größeren Bumerang entwickeln, als es jetzt schon der Fall ist.

derStandard.at: Wie sieht im Ernstfall perfektes Krisenmanagement aus?

Bieber: Unaufgeregt. Vor einiger Zeit ging ein Aufschrei durch die Blogosphäre, weil ein Sportartikelhersteller einen Blogger wegen einer beleidigenden Kritik abgemahnt hatte. Mit rechtlichem Druck derart überzogen zu reagieren, ist immer die schlechteste Lösung. Dadurch werden solche Geschichten erst richtig groß - man nennt das Streisand-Effekt.

Auch Andrea Ypsilanti kann ein Lied davon singen: Als ein Telefonat zwischen ihr und einem falschen Müntefering kursierte, wollte man es mit rechtlichen Mitteln aus dem Netz ziehen und lenkte damit erst recht die allgemeine Aufmerksamkeit darauf. Hätte man hingegen einfach den Mund gehalten, wäre schnell Gras über die Sache gewachsen.

derStandard.at: Falsch zu machen gibt es mehr denn je, oder? Was ist im diesjährigen Wahlkampf neu?

Bieber: Vorwiegend jene sozialen Netzwerke, die vor vier Jahren noch nicht verbreitet waren oder noch nicht mal existierten. Besonders Videoplattformen wie YouTube spielen eine große Rolle - dort verlängern die Parteien den Fernsehwahlkampf ins Internet. Virale Videos, Negative-Campaining, aber auch Twitter werden in den letzten Wochen vor der Wahl sicher noch für etwas mehr Spannung sorgen.

derStandard.at: Und Wählerstimmen fangen?

Bieber: Weniger. Der Gedanke, auf diesen Kommunikationswegen massive Unterstützer-Gewinne einzufahren, ist in den Parteien eher in den Hintergrund geraten. Es geht vorwiegend darum, neue Techniken auszuprobieren und mit ihnen zu experimentieren.

derStandard.at: Gerade noch rechtzeitig?

Bieber: Jedenfalls früher, als die meisten deutschen Unternehmen, die abseits der Medien- und Werbebranche operieren. Die Politik hat da entgegen der öffentlichen Wahrnehmung fast eine Vorreiterposition inne. Im Vergleich zu Amerika findet man hierzulande zum Beispiel kaum Sportler oder Künstler, die sich erfolgreich über Twitter vermarkten - sehr wohl aber Politiker. Dann heißt es: „Was machen diese Politiker mit Twitter? Das interessiert doch keinen." Wenigstens probieren die Parteien neue Technologien aus und zeigen Experimentierfreude! Ja, sie werden dabei Fehler machen und noch den ein oder anderen Kollateralschaden anrichten - doch wenigstens sind sie mutig. Und das finde ich ausgesprochen positiv.

derStandard.at: Ihr Sohn ist jetzt 16 Monate alt. Wie wird er, wenn er mal wahlberechtigt ist, Demokratie erleben und daran teilhaben können?

Bieber: In 14,5 Jahren - das Wahlalter ist dann wohl auch in Deutschland auf 16 heruntergesetzt - wird mein Sohn seine Informationen aus einer verschmolzenen Medienlandschaft beziehen. Alte oder neue Medien, das wird keine Rolle mehr spielen, denn die Formen werden ineinandergreifen. Wahrscheinlich wird er seine erste Stimme auch digital abgeben. Ziemlich sicher sogar. (Rebecca Sandbichler/derStandard.at, 17.09.2009)

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Eines der vielen Videos über die Wahlkampftour der Grünen-Vorsitzenden Claudia Roth: