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Die Villa Agricola in Tissano wurde im 15. Jahrhundert als herrschaftliches Landhaus errichtet und immer wieder erweitert. Heute erzählt sie den Hotelgästen viel über die Geschichte des Friaul.

Foto: Archiv Ulmer/ AirPhoto

Heute dient der einstige venezianische Herrensitz Urlaubern als Ort der Erholung.

Tissano – Der deutsche Kunsthistoriker Christoph Ulmer erwarb 1993 die baufällige Villa Agricola und stand während der siebenjährigen Renovierungsarbeiten selbst auf dem Gerüst, auch um sicherzugehen, dass die richtigen Materialien verwendet werden. Sein Anliegen war es, den historischen Kontext des Gebäudes über die materielle Authentizität zu erhalten – denn sonst wird „eine Villa zu einem banalen Haus".

Besucher lassen sich von den Anekdoten des Experten begeistern und erfahren zugleich am Beispiel der Villa Agricola einiges über die Geschichte des Friaul. Der „palazzo padronale in villa" wurde im 15. Jahrhundert als herrschaftliches Landhaus errichtet und durchlief seither eine reiche Entwicklung. Zuerst erweiterte die Juristenfamilie Agricola die Bausubstanz um das Dreifache. Trotz des formal hochherrschaftlichen Ausbaus entstand keine Villa, die als Ort höfischer Feste geeignet war. Das mächtige Gebäude sollte in erster Linie das Ansehen des Besitzers erhöhen. In einer nächsten Phase wurde das Verwalterhaus zu einer schlossartigen Anlage umgestaltet. Spät im 19. Jahrhundert entstand schließlich eine ideale Villa mit Vorhof und Garten.

Die Geschichte der Villa Agricola verweist darauf, wie unterschiedlich die Funktionen einer Villa sein können: als Palais auf dem Land, welches als Zweitwohnsitz für die Sommerfrische errichtet wurde, als Landgut (Villa rustica), das wirtschaftlichen Interessen diente, oder als „humanistisches Landhaus", Rückzugsort für Intellektuelle. Manchmal wurden Villen jedoch als reines Repräsentationsobjekt erbaut und nie bewohnt.

Der Villenforscher genießt auf der Terrasse eines schlichten Caffès neben dem Vorplatz der Villa einen Espresso. Ulmer ist kein Hotelier, der von hohen Nächtigungszahlen schwärmt. Der 46-Jährige interessiert sich weniger für die Gästestruktur als vielmehr für die Wirkung, die das historische Gemäuer mit seiner ästhetisch-funktionalen Qualität auf die Besucher ausübt.
Es gibt Gäste, die einen Aufenthalt in einem Schloss mit Marmorbad erwarten und enttäuscht abreisen. Das Gros der Gäste genießt die Ursprünglichkeit des Urlaubsdomizils. Ulmer lebte selbst 20 Jahre in der Villa, weshalb sie für ihn kein rein abstraktes Kunstobjekt mehr ist, sondern etwas Lebendiges. Wenn möglich, möchte er noch weitere Villen vor dem Abriss retten. Das Hotel hat der „Villendoktor" inzwischen verpachtet, um sich ganz auf seine Forschungen zu konzentrieren.

Einheimische kommen ins Caffè und grüßen „Dottore Ulmer" mit Respekt. Der innere Abstand der lokalen Bevölkerung zur Villa ließ sich bisher nicht aufheben, auch nicht durch die Einladung zu Sommerfesten. Anfangs gab es eine Dorfbar im Innenhof, doch die wenigen einheimischen Besucher schlichen zur Hintertür hinein. Dabei wäre die Villa, die allen offensteht, der ideale Ort zum Feiern.

Nicht nur im heutigen Tissano treffen zwei Welten aufeinander. Die Geschichte der gesamten Region ist durch ein nicht allzu harmonisches Nebeneinander gekennzeichnet. Als Friaul unter venezianische Herrschaft kam, wurde für jene Adelsfamilien, die nun die neue bürgerlich-städtische Oberschicht bildeten, die venezianische Villa zum Symbol. Der kaisertreue alte Adel hielt aber an seinen Burgen fest oder baute wuchtige neue Schlösser. Dieses spannungsreiche Nebeneinander rivalisierender Adelsgruppen mit völlig unterschiedlichen Traditionen und Idealen führte zu einem einzigartigen Reichtum an architektonischen Formen.
Gefördert wurde diese Entwicklung durch die außerordentliche Vielfalt der Landschaftsformen im Friaul. Eine historische Besonderheit der Region ist, dass sich die Identität der ortsansässigen Bevölkerung auch in den herrschaftlichen Bauten des lokalen Adels widerspiegelt, ablesbar in schwerfälliger Verschlossenheit und einer Haus- und Grundstücksstruktur, die sich an das Vorbild des friulanischen Dorfes anlehnt.

Ist es der Caffè oder die Frage nach seiner persönlichen Verwurzelung mit dem Thema, was in Ulmers Ausdruck Leidenschaft hervorzaubert? Von seiner Tante und seiner Großmutter habe er den „Generalschlüssel zu den Villen" bekommen. Die beiden Frauen verfügen über ein weit gespanntes Netzwerk.

Ulmer, ehemals Direktor der Villa Manin, schätzt, dass es in Friaul mehr als tausend beim Denkmalamt eingetragene Villen gibt. Er sieht sich als Außenseiter, dem sich aus der nötigen inneren Distanz die Besonderheiten der Villenarchitektur erschließen. In seiner Diplomarbeit hat er als Erster die Typologie der friulanischen Villa eingeführt. Für die erste Auflage des Buches „Die Villa im Friaul", in dem er die wichtigsten Bauten detailgetreu beschreibt, recherchierte der Autor sechs Jahre. Oft waren mehrere Kaffeerunden nötig, um das Vertrauen der Besitzer zu gewinnen. Rund drei Viertel der friulanischen Villen sind in Familienbesitz.
Für den Kunsthistoriker Ulmer endet die Villenforschung im ausgehenden 19. Jahrhundert mit dem Verfall der alten abendländischen Ordnung. Damit einher ging ein Verlust der engen Bindung von Form, Funktion, Status und politischer Gesinnung. Die Wirtschaftskrise der Gründerzeit zwang viele Adelige zum Verkauf ihrer edlen Bauten, ein beträchtlicher Teil der Villen verfiel. Die folgenden Generationen verloren mit wachsender Entfremdung von der eigenen Geschichte den Bezug zum Boden. (Ute Mörtl, DER STANDARD, Printausgabe, 15.9.2009)