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Honecker statt Kruzifix: Für Buschheuer ist irgendwann der Fahnenappell des Pionierlagers der Morgenandacht im Tempel gewichen.
Mir geht ein Satz von Eva Herman nicht aus dem Sinn. Ja, ich weiß, das ist ein schlechter Anfang für einen Essay. Lieber sollte ich schreiben, mir geht da ein Satz von Sloterdijk nicht aus dem Sinn. Aber dem ist nicht so. Die über Nacht fromm gewordene Exnachrichtensprecherin Herman sagte neulich: "Mir ist ein anderer Kopf gewachsen." Erscheinungen wie diese sollte man nicht so abtun. Bei Gott, ich weiß, wovon ich rede.
Vor sechs Jahren, im Vollsuff, habe ich mir alle Namen Gottes auf den Steiß tätowieren lassen, am St. Marks Place in New York. Mir war genau dasselbe passiert wie Eva Herman. Und ich wollte, dass das jeder (zumindest jeder, der meinen Arsch sieht), weiß.
Meine Rückkehr nach Deutschland - nach vier Jahren New York - hat mich spirituell um Lichtjahre zurückgeworfen. So sehr, dass ich mir nun mithilfe eines Lasergerätes in einer schmerzhaften, überaus teuren Prozedur die Namen Gottes von der Haut kratzen lasse. Was ist geschehen? Erst kürzlich, als jemand zu mir gesagt hatte, ich sei "wieder so zynisch geworden" , wurde mir klar, dass meine Jahre als Homo religiosus gezählt sind. Ich bin zurückgefallen in die finstere Welt der Ungläubigen. Acht Jahre zuvor, als ein Inder mir erklärte, dass ich von Maja, der Illusion, verblendet bin, dass die ganze Welt durch Atman verbunden sei, hatte ich plötzlich eine Idee von Weltseele, Weltatem, Schicksal gehabt. Ich nannte diesen Moment meine Einleuchtung. Ist nicht die Welt erst dann eine Wundertüte, wenn man beschließt, an Wunder zu glauben? Will nicht jeder, speziell der Einzelgänger, tief im Inneren irgendwo dazugehören, zu einer Gruppe, einer Idee, zu irgendwas? Findet man nicht erst Trost im Befolgen der Vorschrift und Lust im Begehen der Sünde?
In erster Linie wollte ich damals ein guter Mensch werden. Ich wollte Böses mit Gutem vergelten. Die andere Backe hinhalten. Die Hungrigen speisen. Nicht zu vergessen: die Demut. Demut ist eine wichtige Größe im Glauben. Nur ein Hottentotte denkt, er ist seines Glückes Schmied. Ganz anders Mozart, der seinem Vater schrieb: "Ich habe Gott stets vor Augen. Ich erkenne seine Allmacht. Ich fürchte seinen Zorn." Oder ein feiner Mann wie der Konsul Buddenbrook. Der dankt immerzu dem Herrn, für jede Genesung, jede Geburt, jeden Geschäftserfolg. "So ein Depp" , dachte ich als frischgebackene FDJlerin. Einem Gott zu danken, dessen Existenz in hohem Maße fraglich ist, ist ein Intelligenzproblem. Später fand ich in Philip Roth einen Komplizen: "Religion war eine Lüge, die er schon früh im Leben durchschaut hatte" .
Heute wäre ich beim Einkaufsbummel um ein Haar auf einer Matschkirsche ausgerutscht und möglicherweise zu Tode gekommen. Glück gehabt, denkt man da. Und weiter geht's auf dem rutschigen Terrain selbstbestimmten menschlichen (Über-)Lebens. Damals hätte ich "Thank you Krishna" gemurmelt und mich berauscht an der Tatsache, unter Gottes persönlichem Schutz zu stehen. Ich hätte es unerträglich gefunden, nur zu denken: "Glück gehabt!" , mit diesem Hochmut der Atheisten, die - wie alle Fundamentalisten - Andersdenkende für Idioten halten. Damals hätte ich Gott auf Knien gedankt, mit nackten Knien auf möglichst kalten Steinen. Wenn wir im Tempel im Sprechchor beteten: "Lord, I will go where you want me to go, I will do, what you want me to do, I will be, what you want me to be" , so löste das wohlige Schauer aus. Surrender. Sich hingeben. Detachment. Keine Anhaftung. Take the present moment as it is. Den Moment nehmen, so wie er einem gegeben wird.
Nicht dass ich aus religiösem Hause käme. Nicht dass ich schon mit drei regelmäßig Herrn Jesus zu Gast an den elterlichen Esstisch gebeten hätte. Im Gegenteil: Ich hatte keine Ahnung von seiner Existenz. Als Kind von Exprotestanten wuchs ich in der DDR auf. Es war die Zeit, in der die Negation der Negation fröhliche Urständ feierte. Gott war tot, das konnte man bei Nietzsche in den Giftschränken einschlägiger Antiquariate nachlesen. Dabei hätte Nietzsche mit diesem Gedanken ein deutscher demokratischer Volksheld werden können. Stattdessen war Marx unser Popstar. An dessen Slogan berauschten wir uns: Religion ist Opium fürs Volk. Genau. Und Opium gab's eben nur unterm Ladentisch.
In meiner Kleinstadtschule hing kein Kruzifix, sondern der frisch inthronisierte Erich Honecker. Es hieß v. u. Z., nicht v. Chr. Wer v. Chr. schrieb, um auf die Zeit vor dem Jahr null hinzuweisen, der war ein Staatsfeind, Provokateur oder die abgemilderte Form: ein Christ, aber per Geburt bitte. Kein neu getaufter. Ein neu getaufter Christ verhielt sich für die DDR-Ideologen zum geborenen Christen wie heute das böse Aids (schwul) zum guten Aids (Bluttransfusion). Je jünger der geborene Christ war, desto weniger konnte er dafür, Staatsfeind, Provokateur oder Christ zu sein. Ich war eine Leseratte. Krieg und Frieden von Tolstoi, Der stille Don von Scholochow zupfte ich zu früh aus dem elterlichen Bücherschrank. Hesses Steppenwolf - das war sowieso ich. Als ich, literarisch dieser Art vorbereitet, mit 17 Klaus Manns Autobiografie Der Wendepunkt in die Hände bekam, kritzelte ich, hell begeistert, seitenweise Manns Gedanken über die Sowjetunion in mein Tagebuch. Niemals zuvor hatte jemand so zu mir gesprochen. Von der "amtlich vorgeschriebenen Philosophie" war da zu lesen, die den Verstand unbefriedigt lässt, von einer "Weltanschauung, der jede Ahnung vom Metaphysischen fehlt" , von der "Kategorie des Tragischen" , die dem Marxismus anstößig sei. Mann schrieb von der unbefriedigten "metaphysischen Sehnsucht des Menschenherzen" . Auch Marx und Engels hatten das Mysterium des Todes nicht entschleiert, im Übrigen auch das Phänomen des Lebens nicht.
Mein mit Ausrufezeichen versehener Kommentar damals: Klaus Mann ist groß. Vor allem war er tot. Man konnte ihn nicht mehr über das fromme Schaudern, die Kategorie des Transzendentalen befragen. Ich weiß nicht, ob er das gewollt hätte, aber ich legte das FDJ-Hemd ab und kaufte mir eine Bibel, sehr zum Leidwesen meiner Eltern. Meine Ahnung vom Metaphysischen bestätigte sich nicht.
Der Atheismus erschien mir plausibler. Das Selbststudium blieb trocken. Ich suchte die Jugend-Gemeinde auf, dort fühlte ich mich wie ein ungewollter Konvertit. Was mussten das für Deppen sein, die an sprechende Schlangen, an Rippen, aus denen Frauen gemacht werden, glaubten? Und wenn Kain Abel erschlagen hatte, stammten wir nicht eh alle von einem Mörder ab? Mein spiritueller Hunger verflog so schnell, wie er gekommen war.
Kürzlich erzählte ich einem Geschäftsmann, dass ich einige Jahre in einem Hindu-Tempel gelebt habe. "Oh" , sagte er, "wann war das?" Offenbar rechnete er mit einer Antwort wie "mit 16" . Vor fünf Jahren, antwortete ich, und er brach in Gelächter aus. Vielleicht war ich ein spiritueller Spätzünder, vielleicht aber war dies auch der DDR geschuldet. Sie entließ mich mit 24 in ein System, in dem ich holterdiepolter eine Karriere machen musste, wenn es nicht schon zu spät war. Und, schwupps, war ich Mitte 30. Meine anschließende Sinnsuche auf anderen Kontinenten geriet zu einer Melange aus Au-pair-Aufenthalt und Sabbatjahr. Ich fraß das Fremde, Neue. Ich schonte mich wie verrückt. Ich übte jede Enthaltsamkeit, setzte mich jeder denkbaren Unbequemlichkeit aus. Maxim Biller enttarnte meine Tempeljahre, die der Jahrtausendwende folgten, später als "Sehnsucht nach dem Bolschewismus" . Der Fahnenappell des Pionierlagers sei der Morgenandacht im Tempel gewichen. Vielleicht hatte er ja recht! Fehlernährung entstand im Tempel zwar nicht durch staatlich reglementierte Lebensmittelzufuhr, sondern durch das Befolgen religiöser Nahrungsrichtlinien, aber das Ergebnis (ätherische Blässe und Hohläugigkeit) war dasselbe. Mehrstimmig gesungen wurde in beiden Lagern gern. Nur die unter Bolschewisten üblichen Besäufnisse fielen im Krishna-Tempel leider aus.
Meine religiöse Zeit war eine Zeit, da wollte ich nicht mal mehr mit Atheisten befreundet sein. Die kriegten immer diesen Blick, wenn ich von meiner Wandlung berichtete. Die benutzten zynische Argumente, die ich früher benutzt hatte, wenn sich mir Gläubige missionierend in den Weg warfen. Die sahen nicht ein, dass ich erkenntnistheoretisch eine Tür durchschritten hatte, die mich von ihnen trennte. Ich hatte die Verstandesentscheidung getroffen, meinen Verstand fortan weniger zu gebrauchen. Ich wollte nie mehr zurückgehen in Einsteins und Hawkings langweiliges Keiner-da-Modell.
"Wer loslässt, hat die Hände frei" , hieß es im Tempel. Ich ließ alles hinter mir, wie Fürstin Gloria den Punk hinter sich ließ, um dem Papst zu folgen. Hatte nicht Kant gesagt: "Ich musste das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen?" Na also, der war ja nun wirklich kein Idiot. Es war plötzlich alles sonnenklar: Glaube bedeutet, aus dem Nichtnachdenken eine Tugend zu machen. Die Dummen tun das, weil es der leichtere Weg ist, und die Klugen tun es quasi aus demselben Grund.
Wie aber fiel ich nun wieder vom Glauben ab? Genauso radikal, wie ich ihm vier Jahre vorher anheimgefallen war? Ich hatte wiederum ein Einleuchtungserlebnis. Ich hörte eine Radiodiskussion von 1955, in der Heinrich Böll und Gottfried Benn über das Thema "Soll Dichtung das Leben bessern?" sprachen. "Aber, wer zwingt einen Christen, Kunst zu machen, wenn er hauptsächlich Christ ist?" , sagte Benn. "Wenn das Verlangen, Kunst zu machen, nicht primär ist, dann sollen sie Sozialist werden oder Kommunist oder Christ oder sonst was." Das war der Schlüssel. Ich lebe vom Schreiben, und ich hatte besser geschrieben, als mir nichts heilig war. "Wenn man religiös wird, erweicht der Ausdruck" , sagt Benn. Gesinnung schlägt auf die Qualität. Möglicherweise ist Glauben sowieso nur eine Störung des Nervensystems. Messungen von Neurotheologen legen diesen Verdacht nahe. Das kann durchaus passieren, dass einem mal ein anderer Kopf wächst. Der Trick ist nur: Man sollte ihn abschlagen. (Else Buschheuer, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 19./20.09.2009)