
Körperkult mit viel nackter Haut: Geistesmensch Gustav von Aschenbach (Kurt Streit, links) wird schwach beim Anblick des Knaben Tadzio (Filipe Pinheiro, unten rechts).
Die Regie von Ramin Gray geriet aber zu wenig subtil.
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Wien - Und ewig lockt das Vibrafon. Rätselhaft silbrig leuchtet es auf, scheint spielerisch in sich zu kreisen und verströmt dabei einen schier unwiderstehlichen Reiz: Benjamin Britten ist in seiner letzten, zwischen 1971 und 1973 entstandenen Opernpartitur nochmals zu neuen Ufern aufgebrochen und hat nicht nur die Gebrochenheit seines Protagonisten in unerhört modernistischen Klängen gespiegelt, sondern auch eine fremdartige, eindringliche Musik für dessen Sehnsüchte und Nöte geschaffen.
Das ganze verzweifelte Begehren des Gustav von Aschenbach, der aus plötzlich entflammter Leidenschaft für den Knaben Tadzio sehenden Auges eine Infektion mit der Cholera in Kauf nimmt, scheint sich in dieser irrealen und kindlich-unschuldig daherkommenden Ausdruckswelt zu bündeln. Britten hat für sie Eindrücke balinesischer Gamelan-Orchester verarbeitet und für die Charakterisierung jenes Knaben verwendet, an den sich in Der Tod in Venedig der alternde Schriftsteller aus Thomas Manns gleichnamiger Novelle klammert, als könne er damit seinen bevorstehenden Untergang noch verhindern.
Einiges von der Intensität, die die überwiegend düsteren Farben der Oper ausstrahlen, muss einem starken Grad an Identifikation mit dem Titelhelden geschuldet sein, der bei Britten wohl kaum geringer war als im Falle Manns. "Der alternde Künstler, Erneuerung der Inspiration, Schönheit: Aschenbachs Probleme sind auch seine" - mit dieser lapidaren Feststellung hat Brittens Lebensgefährte, der Tenor Peter Pears, das Werk in die Nähe einer biografischen Wahlverwandtschaft des Komponisten zu Aschenbach gerückt.
Brennspiegel der Emotionen
Nichts weniger als ein zwingendes Psychogramm dieses Geistesmenschen, der schlagartig alle Vernunft vergisst und sich von seinen Trieben treiben lässt, gelang Kurt Streit bei der Premiere am Donnerstag im Theater an der Wien: Introspektiv, aber keineswegs introvertiert ließ er die brennende Begierde Aschenbachs und die Stadien seiner Ermattung Gestalt annehmen, wie ein Brennspiegel der Emotionen ein Vakuum ungelebter Sehnsüchte aufbrechen. Auch in seinen ausgedehnten, nur vom Klavier begleiteten Rezitativen verlor er nie an Leuchtkraft, die er mit großer Wortdeutlichkeit und oft vibratoloser Schärfe fokussierte.
Russell Braun fungierte als omnipräsenter, markanter "Reisender" , als ein Begleiter dieser unfassbar traurigen Gestalt, der ihn auf die Reise nimmt und ihm in sieben Gestalten begegnet, ebenso wie der mit dem Countertenor Christophe Dumaux luxuriös besetzte Apollo und eine Unzahl von Figuren, die allesamt aus dem Chor (tadellos: Vokalensemble Nova) heraus in Aktion treten.
Wenn in der Oper selbst angedeutet ist, dass Aschenbach vieles nur imaginiert oder seine Umgebung zumindest äußerst verzerrt erlebt, etwa indem dem vom Tänzer Filipe Pinheiro mit jugendlicher Biegsamkeit und Eleganz dargestellten Tadzio und seiner Familie stumme, realitätsentrückte Rollen zugedacht sind, entgeht das Werk selbst der Gefahr, das Begehren in der Grauzone zur Pädophilie zu idealisieren.
Die Inszenierung von Ramin Gray mit ihren historisierenden Kostümen (Kandis Cook), die bereits in Hamburg gezeigt wurde, löst diese Schwierigkeit allerdings nicht. Während sich trotz Wassermühlen, die zugleich als Windmaschinen flatternde Tücher in Bewegung setzen, oder einem sich drehenden Zirkel aus Vorhängen (Bühne: Jeremy Herbert) Statik breit macht, wird viel zu wenig verdeutlicht, dass es Aschenbach ist, dessen Weltwahrnehmung die Oper schildert - und nicht eine objektiv existierende Außenwelt.
So ergaben sich, trotz atmosphärischer Lichtwirkungen (Adam Silverman), häufig Bilder mit viel nackter Haut in der Nähe einer Fleischbeschau und kaum psychologische Einblicke. Dies war aber immerhin verschmerzbar, zumal man sich an den in ihrer Kargheit ungeheuer reichen Klängen ohnehin kaum satthören konnte und das ORFRadio-Symphonieorchester Wien unter Donald Runnicles die Schwierigkeiten des Werks kaum je erahnen ließ, sondern mit Präzision dunkle Schwermut in den schönsten Schattierungen malte. (Daniel Ender, DER STANDARD/Printausgabe, 19./20.09.2009)