Mit leeren Händen sehen sie Bulgariens Demokratie 20 Jahre nach der Wende: Ilija Trojanow (2. v. re.) und Sibylle Lewitscharoff im Gespräch mit Standard -Chefredakteurin Alexandra Föderl-Schmid (re.) und Michael Kerbler (Ö1) im Radiokulturhaus.

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Wien - "Die EU hat völlig versagt." Unzweideutig beantwortet Ilija Trojanow die Frage von Standard-Chefredakteurin Alexandra Föderl-Schmid, ob die Europäische Union auf Bulgarien vor dessen Aufnahme mehr Druck hätte ausüben müssen. Nach der deprimierenden Analyse des bulgarischen Ist-Zustandes, die der Schriftsteller und seine Kollegin Sibylle Lewitscharoff im "Zeitgenossen" -Gespräch mit Michael Kerbler (Ö1) und Föderl-Schmid im RadioKulturhaus geliefert hatten, lag die Frage in der Luft.

Trojanow floh 1971 mit seiner Familie aus Bulgarien. Der vielfach ausgezeichnet Autor ("Autopol" , "Hundezeiten" ) lebt seit Jahren in Wien und besucht immer wieder seine alte Heimat. Er hat auch einen Film über die Opfer der kommunistischen Unterdrückung gedreht. Die in Stuttgart lebende Autorin Lewitscharoff stammt von einem bulgarischen Vater und einer deutschen Mutter ab. Den literarischen Durchbruch schaffte sie 1998 mit ihrem Roman "Pong" , für den sie den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann.

Beide sind sich in ihrer Diagnose weitgehend einig: Anders als in Mitteleuropa hat in Bulgarien 1989 auch nicht ansatzweise eine Revolution stattgefunden. Der Machtwechsel erfolgte auf Geheiß des großen russischen Bruders, war aber im Grunde keiner. Die frühere Nomenklatura sitzt bis heute an den politischen und wirtschaftlichen Schalthebeln. Das Maß an Rechtlosigkeit und Korruption in Bulgarien sei nur mit den schlimmsten Bananenrepubliken zu vergleichen, sagt Trojanow. Sie könne sich nicht vorstellen, wie "eine derartig mafiotische Durchherrschung" aufzubrechen sei, sagt Lewitscharoff.

Fragwürdige EU-Hilfe

Keine 24 Stunden später schien sich das Verdikt der beiden sowohl über die bulgarischen Zustände als auch über die Rolle Europas an einem prominenten Beispiel zu bestätigen: Die aus der alten Partei-Nomenklatura stammende Bulgarin Irina Bokova wurde zur neuen Generaldirektorin der UN-Kulturorganisation Unesco gewählt - mit starker Unterstützung aus der EU.

Angesichts der Widerstände gegen einen EU-Beitritt der Türkei wundert sich Lewitscharoff, dass die Aufnahme Bulgariens "so sang- und klanglos funktioniert hat" . Hier werde offensichtlich mit zweierlei Maß gemessen. Dennoch müsse der entscheidende Impuls zu einer Änderung der Verhältnisse von den Bulgaren selber kommen. Die Schriftstellerin erwartet sich viel von den Hunderttausenden gut ausgebildeten jungen Bulgaren, die nach der Wende in den Westen ausgewandert sind und die bulgarische Demokratie nun von außen "beatmen" könnten.

Das wünscht sich auch Trojanow, ist aber skeptisch, weil man den Emigranten im Land mit Misstrauen begegne, nach der Devise "Du hast leicht reden, du hast das ja nicht miterlebt".

Potenzial für eine Zivilgesellschaft sieht Trojanow in jungen, kritischen Internet-Journalisten und kleinen aktiven Bürgergruppen. Die seien derzeit aber noch sehr marginal. Was die Qualität der handelnden Politiker betreffe, so sei sie nach der Wende laufend gesunken. Und vermutlich müsse es "erst richtig schlecht werden, bis es wieder aufwärts gehen kann". (Josef Kirchengast/DER STANDARD, Printausgabe, 24.9.2009)