Berlin - Die Führungen der deutschen Parteien sind am Montag zu einer Analyse der Bundestagswahl in Berlin zusammengekommen. Die Unions-Parteien von Kanzlerin Angela Merkel und die FDP sollen spätestens in der nächsten Woche Verhandlungen über die neue Regierung Deutschlands aufnehmen. Das kündigte Merkel am Montag im CDU-Präsidium an. Merkel und FDP-Chef Guido Westerwelle verabredeten, sich bereits am Nachmittag im Kanzleramt zu treffen, um den Fahrplan für die Verhandlungen festzulegen. Nach Auffassung der Kanzlerin soll die Bildung der neuen bürgerlichen Koalition möglichst bis Ende Oktober abgeschlossen sein.

CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla sagte am Morgen in einem Fernseh-Interview, die Koalitionsverhandlungen sollten möglichst schon in der nächsten Woche beginnen. "In einem Monat sollte der Koalitionsvertrag spätestens stehen", kündigte Pofalla an. Er bekräftigte auch, dass trotz der enormen Staatsverschuldung die Lohn- und Einkommensteuer in den nächsten Jahren gesenkt werden soll. Darauf besteht ebenfalls die FDP.

Zugleich zeichnen sich aber harte Verhandlungen der Unions-Parteien mit den Freidemokraten ab. Der CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer kritisierte in einem Fernseh-Interview sozialpolitische Forderungen der FDP. Er nannte als Beispiele für strittige Themen den Kündigungsschutz sowie die Gesundheitspolitik.

Führende FDP-Politiker bekräftigten Wahlkampf-Forderungen ihrer Partei. FDP-Generalsekretär Dirk Niebel bestand auf "einer Vereinfachung und Entlastung" bei den Steuern. Bayerns FDP-Chefin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger wies zudem auf Unterschiede zu CDU/CSU in der Innen- und Rechtspolitik hin. Die Unions-Parteien würden schnell lernen, dass die FDP durchsetzungsfähiger und hartnäckiger sei als ihr bisheriger Koalitionspartner SPD, sagte Niedersachsens FDP-Wirtschaftsminister Philipp Rösler.

Die Sozialdemokraten müssen über mögliche Konsequenzen aus der schweren Wahlniederlage beraten. In der Partei wird teils gefordert, dass der gescheiterte Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier nicht nur den Vorsitz der Bundestagsfraktion, sondern zusätzlich der Partei übernehmen soll. Der 69 Jahre alte Parteichef Franz Müntefering will aber wieder antreten. Er bekräftigte am Montag im Deutschlandfunk: "Ich stelle mich der Aufgabe. Es gehört nicht zu meinen Eigenarten, wegzulaufen, wenn es schwierig ist."

Machtwechsel

In Deutschland kommt es nach vier Jahren großer Koalition zu einem Regierungswechsel: Statt mit der SPD kann Bundeskanzerlin Angela Merkel künftig mit der FDP regieren, die bei der Bundestagswahl am Sonntag sensationell gut abschnitt.

Merkels Christdemokraten (CDU/CSU) fuhren zwar ihr schlechtestes Ergebnis seit 1949 ein. Die Union konnte nur bedingt von den hohen Popularitätswerten der Kanzlerin profitieren. Auch die CSU in Bayern musste einen Tiefschlag einstecken. Sie erreichte laut vorläufigem Endergebnis nur 42,6 Prozent - ihr schlechtestes Ergebnis bei einer Bundestagswahl seit 1949.

Dies wurde aber durch das beste FDP- Abschneiden aller Zeiten ausgeglichen. FDP-Chef Guido Westerwelle wird jetzt wahrscheinlich deutscher Außenminister und Vizekanzler. Grüne und Linke erzielten ebenfalls zweistellige Rekordergebnisse. Ein Desaster erlebten die SPD und ihr Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier. Die Sozialdemokraten erzielten das schlechteste Ergebnis in der Nachkriegsgeschichte und müssen nach elf Jahren an der Macht wieder in die Opposition. Die SPD verlor so viel wie nie zuvor eine Partei bei einer Bundestagswahl. Merkel und Westerwelle kündigten zügige Koalitionsverhandlungen an.

Sieg von Union und FDP

Der Bundeswahlleiter bestätigte am frühen Montagmorgen mit dem vorläufigen amtlichen Endergebnis den Vorsprung von CDU/CSU und Freidemokraten. Nach der Auszählung aller 299 Wahlkreise kamen CDU und CSU am Sonntag auf 33,8 Prozent (2005: 35,2 Prozent) der abgegebenen Stimmen. Wie Wahlleiter Roderich Egeler weiter mitteilte, erreichte die FDP 14,6 Prozent (9,8). Die SPD sackte von 34,2 Prozent (2005) auf 23,0 Prozent und erreichte damit ihr schlechtestes Ergebnis in der Geschichte der Bundesrepublik. Die Linke bekam 11,9 Prozent (8,7), die Grünen verzeichneten 10,7 Prozent (8,1).

Bei der Landtagswahl in Schleswig-Holstein blieb die CDU unter Ministerpräsident Peter Harry Carstensen laut ARD trotz erheblicher Verluste mit 31,5 Prozent stärkste Kraft. Sie kann aber voraussichtlich dank eines hervorragenden FDP-Ergebnisses von 15,0 Prozent ebenfalls mit den Liberalen regieren. Die Mehrheit von Schwarz-Gelb im Kieler Landtag ist aber mit 43 zu 42 Sitzen sehr knapp. Die SPD stürzte auf 25,4 Prozent ab. Die Grünen holten 12,2, die Linke 6,0 und der Südschleswigsche Wählerverband SSW, für den die Fünf-Prozent-Hürde nicht gilt, 4,4 Prozent.

In Brandenburg lag laut ARD die SPD von Ministerpräsident Matthias Platzeck mit 33,0 Prozent vor der Linken, die auf 27,2 Prozent kam. Die CDU erreichte 19,9 Prozent, die Grünen 5,4 und die FDP 7,3 Prozent. Damit kann Platzeck wie bisher mit der CDU weiterregieren oder eine Koalition mit der Linken schmieden.

FDP kündigen harte Koalitionsverhandlungen an

Die deutschen Freidemokraten haben nach dem Wahlerfolg bei der Bundestagswahl harte Koalitionsverhandlungen mit den Unions-Parteien angekündigt. CDU und CSU würden schnell lernen, dass die FDP durchsetzungsfähiger und hartnäckiger sei als die SPD, sagte Niedersachsens FDP-Wirtschaftsminister Philipp Rösler am Montag im Deutschlandradio Kultur. Bayerns FDP-Chefin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger wies im Bayerischen Rundfunk auf deutliche Unterschiede zwischen Unions-Parteien und FDP in der Steuer- und Finanzpolitik sowie Innen- und Rechtspolitik hin.

Über die Zahl der von der FDP zu besetzenden Ministerien werde erst "am Ende" mit der Union geredet, sagte Leutheusser-Schnarrenberger. Sie betonte allerdings: "Wir sind deutlich stärker als die CSU." Die Frage, ob sie selbst als Ministerin in die künftige Bundesregierung gehen wolle, ließ die FDP-Politikerin offen. "Da mache ich mir heute keine Gedanken."

FDP-Generalsekretär Dirk Niebel bekräftigte die Pläne seiner Partei für eine Steuerreform. "Wir haben immer nur eine einzige Bedingung gemacht im Wahlkampf: Wir brauchen eine echte Steuerstrukturreform, eine Vereinfachung und Entlastung im Steuersystem", sagte Niebel dem Fernsehsender Phoenix.

CDU-Politiker warnen FDP vor überzogenen Forderungen

Führende CDU-Politiker haben die FDP vor den Koalitionsgesprächen über eine schwarz-gelbe Regierung vor überzogenen Forderungen gewarnt. Unterdessen fordert Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) seine Partei nach der Niederlage zu einer Neupositionierung im Umgang mit der Linken auf.

"Jetzt gilt die Hoffnung natürlich auch, dass die FDP nicht abhebt, dass sie nicht die Bodenhaftung verliert", sagte Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff am Montag im NDR. Er betonte zugleich, die Union werde mit der FDP erfolgreicher regieren. Baden-Württembergs Ministerpräsident Günther Oettinger warnte die FDP ebenfalls vor Übermut. "Die FDP wird in der Koalition, die wir bilden wollen, ein weit kleinerer Partner sein als die SPD. Das heißt: Es wird mehr CDU werden", sagte der CDU-Politiker am Montag vor der Präsidiumssitzung seiner Partei in Berlin.

"Insgesamt enttäuschend"

Merkel zeigte sich erfreut über die schwarz-gelbe Mehrheit im Bund: "Wir haben etwas Tolles geschafft. Wir haben es geschafft, unser Wahlziel zu erreichen, eine stabile Mehrheit in Deutschland zu schaffen in einer neuen Regierung."

CSU-Chef Horst Seehofer bezeichnete das Bayern-Ergebnis als "insgesamt enttäuschend". Dennoch will die CSU trotz ihrer historischen Pleite bei der Bundestagswahl keine Personaldiskussion führen. Es gebe keinen Anlass, irgendetwas zu verändern, sagte CSU-Chef Seehofer am Montag in München vor einer Vorstandssitzung vor Journalisten. Dabei schloss Seehofer seine eigene Position ebenso ein wie die von Generalsekretär Alexander Dobrindt und dessen Stellvertreterin Dorothee Bär.

Seehofer kündigte außerdem an, den bisherigen CSU-Landesgruppenchef Peter Ramsauer zur Wiederwahl zu nominieren. Ramsauer war Spitzenkandidat der Christsozialen bei der Bundestagswahl. Die CSU hatte dabei mit 42,6 Prozent Zustimmung ihr schlechtestes Ergebnis seit 1949 eingefahren.

Eine Diskussion über CSU-Chef Seehofer lehnten unter anderem CSU-Vize Ingo Friedrich, Bayerns JU-Chef Stefan Müller sowie die Bezirksvorsitzenden von Schwaben, Markus Ferber, und Niederbayern, Manfred Weber, ab. Weber forderte allerdings eine deutliche Stärkung der Position von Wirtschaftsminister Karl-Theodor zu Guttenberg. Guttenberg habe in Oberfranken so ein gutes persönliches Ergebnis eingefahren, dass er die Verhandlungsführerschaft für die CSU in den Koalitionsverhandlungen mit der FDP erhalten solle, forderte Weber. "Es geht darum, wer die Stimme der CSU in Berlin einbringt. Karl-Theodor zu Guttenberg sollte eine starke Rolle in Berlin erhalten."

FDP: "Werden auch streiten"

Merkel ging von strittigen Koalitionsverhandlungen mit der FDP aus. "Wir werden über einige Punkte natürlich auch streiten müssen", sagte sie in der "Berliner Runde" von ARD und ZDF. Sie wolle aber "schnell und zügig verhandeln". Merkel und Westerwelle kündigten an, ihre Wahlprogramme, die zum Beispiel in der Frage des Umfangs von Steuersenkungen kontrovers sind, durchsetzen zu wollen. Westerwelle wertete das FDP-Abschneiden als "herausragend".

SPD-Kanzlerkandidat Steinmeier kündigte an, Fraktionschef im Bundestag und damit Oppositionsführer zu werden. SPD-Chef Franz Müntefering legte sich nicht fest, ob er sich beim Parteitag im November zur Wiederwahl tellen wird. Der Linken-Vorsitzende Oskar Lafontaine zeigte sich erfreut über das starke Abschneiden seiner Partei. "Die Linke ist etabliert", sagte er in Berlin. Wie die SPD kündigten auch die Grünen einen harten Oppositionskurs an.

Das Regieren dürfte für Schwarz-Gelb leichter werden, weil Union und FDP im Bundesrat voraussichtlich eine Mehrheit haben werden. Dazu muss es auch in Schleswig-Holstein - wie sich abzeichnete - zu einer Koalition aus CDU und FDP kommen. Dann hätte Schwarz-Gelb 37 Stimmen in der Länderkammer - die absolute Mehrheit liegt bei 35.

Umfrage: Arbeitslosigkeit und Bildung prioritär

Die neue deutsche Bundesregierung soll sich nach dem Ergebnis einer Umfrage vor allem für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und eine bessere Bildung einsetzen. Wie die Umfrage des Meinungsforschungsinstituts polis/USUMA für das Münchener Nachrichtenmagazin "Focus" ergab, nannten 38 beziehungsweise 36 Prozent der Befragten diese Punkte als wichtigste Themen der künftigen Regierung. Für 25 Prozent ist das Gesundheitssystem das zentrale Thema und für 20 Prozent der Kampf gegen die Wirtschaftskrise.

Den Abbau der Staatsschulden nannten 19 Prozent der Befragten als Priorität, 18 Prozent die Familienförderung, 16 Prozent erneuerbare Energien und zwölf Prozent den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr. Für jeweils fünf Prozent der Befragten sind Anti-Terror-Maßnahmen sowie die Integration von Ausländern wichtig.

Beteiligung auf historischem Tief

Die Beteiligung bei der Bundestagswahl 2009 war offenbar so niedrig wie niemals zuvor. Nach einer Hochrechnung der ARD gingen am Sonntag nur 72,5 Prozent der Wahlberechtigten zur Wahl.

Bereits 2005 war mit 77,7 Prozent der bis dahin niedrigste Stand seit der ersten Bundestagswahl 1949 erreicht worden. 2002 betrug die Wahlbeteiligung 79,1 Prozent.

Schon der vom Bundeswahlleiter am Nachmittag verkündete Zwischenstand deutete einen sehr niedrigen Wert an. Bis 14.00 Uhr waren nur 36,1 Prozent der rund 62,2 Millionen Wahlberechtigten zur Urne gegangen. 2005 waren es um diese Zeit immerhin 41,9 Prozent gewesen. (APA/AP)