Wo T-Mobile-Chef Robert Chvátal an einer Kreuzung in Prag am 17. November 1989 mit tausenden Studenten den falschen Weg ging, aber die richtige Richtung einschlug. Gedenktafel an einem Universitätsgebäude: "Wer – wenn nicht wir? Wann – wenn nicht jetzt?"

Der 17. November 1989 war ein sehr grauer Tag in Prag, wo es in dieser Jahreszeit schon sehr kalt sein kann. Auf einem Platz vor der Karls-Universität am Albertov (Alberthof) in der Neustadt, abseits des Zentrums, hatten sich einige hundert Studenten versammelt. Die dissidente "Gruppe unabhängiger Studenten" hatte zum Gedenken an Jan Opletal aufgerufen: 50 Jahre davor war der Medizinstudent hier von den Nazis bei einer Demo erschossen worden.

Glasnost

Den Kommunisten galt nach ihrem Putsch 1948 Opletal als Freiheitsheld, sein Gedenktag war der 17. November. "1989 war voller Bewegung, Gorbatschow hatte Perestroika und Glasnost verkündet, in Ungarn zerfiel die kommunistische Partei, in Prag hatten DDR-Bürger in der BRD-Botschaft Zuflucht genommen" , erinnert Robert Chvátal, damals Wirtschaftsstudent, heute T-Mobile-Austria-Chef, an die Zeit.

"Die unabhängigen Studenten hatten zum Gedenken an Opletal aufgerufen, und da die Kommunisten Opletal immer für ihre Propaganda gebraucht hatten, konnten sie das nicht ablehnen" , erklärt Chvátal. Zum ersten Mal ist er, 20 Jahre später, für den Standard hierher zurückgekehrt. Den Studenten war erlaubt worden, zu Opletals Grab zu pilgern; hingegen waren Altstadt und der mehrere Kilometer entfernte Wenzelsplatz, im Prager Frühling 1968 ein zentraler Ort des Protests, verboten.

"Immer mehr Menschen schlossen sich den Studenten an, ganz gewöhnliche Leute"

Fast schon in der Dämmerung machte sich der studentische Gedenkzug auf den Weg zum Ehrengrab Opletals. Bis an der Kreuzung zur Hauptstraße die genehmigte Gedenkveranstaltung eine unerlaubte Richtung nahm: Der Zug bog an der Na slupi nach rechts zur Altstadt ab, weg vom Friedhof, zur Karlsbrücke und zum Wenzelsplatz. Und dann, erzählt Chvátal, ereignete sich etwas Außergewöhnliches: "Immer mehr Menschen schlossen sich den Studenten an, ganz gewöhnliche Leute" , bis aus dem Studentenprotest eine allgemeine Demonstration wurde. Das spätere Symbol der "samtenen Revolution" erklang immer lauter: Die Demonstranten rasselten mit ihren Schlüsseln, "Zeit für das Regime, zu gehen" .

Als die Menge gegen sieben Uhr abends beim Nationaltheater zum Wenzelsplatz abbog, zogen Chvátal und seine damalige Freundin Irene weiter die Moldau entlang zum Bahnhof. "Wir wohnten außerhalb der Stadt und wollten den Zug erreichen." So verpasste er wenige Minuten später, wie die Polizei kurz vor dem Wenzelsplatz die Demonstration gewaltsam stoppte und auf die Studenten an der Spitze des Zuges einprügelte.

"Das ist der Anfang vom Ende, habe ich daheim meinen Eltern gesagt, zuerst waren es nur 500 oder 600 Studenten, dann haben sich Massen gewöhnlicher Menschen angeschlossen" , sagt Chvátal. Die Gewalt brachte das Fass zum Überlaufen: Nach Gerüchten über den Tod eines Studenten, die sich später als falsch herausstellten, "gründete sich zwei Tage später das Bürgerforum, mit Leuten wie Havel, Dienstbier und Klaus" . Am 21. November füllte sich der Wenzelsplatz mit abertausenden Menschen mit klimpernden Schlüsseln.

"Ich kannte ein paar Leute bei der Sozialistischen Studentenunion."

Chvátal war erst im Oktober 1989 wieder in die ÈSSR zurückgekehrt: Als einer der wenigen Studenten, die über die auch in Prag erlaubte Austauschorganisation Aisec ein Praktikum im Westen absolvieren durften, war er zuvor in Vancouver. "Ich kannte ein paar Leute bei der Sozialistischen Studentenunion. Die fanden es zwar seltsam, dass Aisec-Studenten lieber nach Brüssel als nach Moskau gehen wollten, weil man es so nie an die Spitze schaffen würde. Aber sie halfen mir dabei, die nötigen Genehmigungen zu bekommen."

Als im August ostdeutsche Bürger begannen, Zuflucht in der Botschaft der BRD in Prag zu suchen, berichtete darüber Kanadas Tageszeitung Globe & Mail. "Mein Boss sagte: ,Schau mal, was bei dir daheim passiert. Du solltest abspringen.‘ Aber dann hätte ich meine Familie nie wieder gesehen."

"Als ich zurückkam, lag der Umbruch in der Luft. Man begriff, dass es keinen Sinn mehr hat, das Land zu verlassen, weil man plötzlich Teil der Geschichte ist." Während andere Streiks organisierten, brachten ihm Englisch- und Lagekenntnisse einen Job als Assistent bei CNN. "Die sind zufällig bei einem Interview auf mich gestoßen und haben mich angeheuert. Ich dachte zuerst, das wäre eine freiwillige Hilfe, aber sie zahlten mir hundert Dollar am Tag. Nach zwei Monaten habe ich mir um das Geld ein Apartment gekauft." Eine "unglaubliche Gelegenheit" , erinnert er sich, "man traf alle die Leute, die später wichtig wurden" .

"Venezuela und Chile"

Als CNN abzog heuerte ihn die BBC an, "mit dem Geld konnte ich reisen, nach Venezuela und Chile" , eine Chance, die sein Großvater nie hatte. "Er hatte eine Leidenschaft für Reisen, aber er schaffte es nur einmal nach Wien, danach reiste er nur mehr mit dem Finger auf der Karte, sagte meine Mutter. Ich habe es für ihn wettgemacht, weil ich immer viel auf Achse war, nachdem das möglich wurde."

Den Tschechen, sinniert er, wäre es im Kommunismus "halbwegs gut gegangen, wirtschaftlich, in der Bildung, der Krankenversorgung. Darum waren wir später dran als Ungarn oder Polen. Öffentlicher Protest ist nicht Teil unserer Kultur, wir sind nicht die großen Revolutionäre." Was ihm der Besuch an dem Ort, wo alles vor 20 Jahren anfing, heute bedeutet? "Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich einen Moment der Geschichte physisch erlebt habe. Wenn man etwa in Großbritannien lebt, hat sich in diesen 20 Jahren auch einiges verändert, aber sie haben noch immer die Queen. Wenn ich manchmal Leute höre, wie sie sich über dieses oder jenes beschweren, muss ich lachen, weil sie nicht wirklich wissen, was richtiges Leid ist." (Helmut Spudich aus Prag, DER STANDARD Printausgabe, 26. Sept. 2009 Teil der Serie 1989 )