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Anders als beim Einmarsch der Alliierten in der Vorwoche gibt es keinen jubelnden Empfang bei der Vergabe von Lebensmitteln.

Foto: REUTERS/POOL/Brian Roberts

Der Krieg hat Safwan, dem ersten Städtchen auf irakischem Boden jenseits der kuwaitischen Grenze, den letzten Rest einer schäbigen Beschaulichkeit geraubt. Vom Schreck der Bomben sind sie hier zwar verschont geblieben, der Krieg streift sie allein im Transit. Aber die Schockstarre, die sich über das Land gelegt hat, nahm sie gefangen. Doch nun, als sich vor den Toren von Safwan die Tür eines Lastwagens öffnet, löst sich der Schock und das Chaos bricht los.

Das Geschrei und das Gedränge, die hochgereckt fuchtelnden Arme und die vom Nahkampf verzerrten Gesichter einer rund 300 Köpfe zählenden Menge haben ausgerechnet jene ausgelöst, die gekommen sind, um ihnen zu helfen. Drei schwere Trucks hat der kuwaitische Rote Halbmond mit Hilfsgütern beladen nach Safwan geschickt. "Ein Geschenk von den Menschen aus Kuwait für die Menschen im Irak" steht in großen Buchstaben auf den Lastern.

Als die ersten Kisten zu sehen sind, beginnt das Gefecht. Eine erbarmungswürdige Lumpenarmee verbeißt sich im Kampf Mann gegen Mann. Oben auf der Rampe stehen die Männer vom Roten Halbmond und treten und boxen und schlagen, um den Sturm abzuwehren. Vergeblich. Binnen Sekunden ist die Ladefläche gekapert, die schweren Pappkartons fliegen in die Menge, und unten zwischen dem Schlamm prügeln sich die Stärksten den Weg frei zu einem sicheren Lagerplatz am Rande des Geschehens. Dort stapeln sie die Beute und stürzen sich erneut in den Tumult. Aufgeplatzte Wasserflaschen durchweichen die Kartons, der Reis rieselt aus den Ritzen.

Immer neue Gruppen stürmen heran. Frauen in flatternden schwarzen Gewändern schieben eilig Handkarren vor sich her, Kinder ohne Schuhe und mit zerrissenen Kleidern wuseln durch die Menge. Jeder greift, was er kriegen kann, und sei es aus den Armen des Nachbarn. Es ist die Gier, die sie enthemmt, und die Gier wird angetrieben von der Verzweiflung.

Als die ersten Kamerateams zu sehen sind, die den Hilfskonvoi begleiten, formiert sich eine Gruppe junger Burschen zum Veitstanz. "Saddam, Saddam, wir geben unser Blut für Saddam", skandieren sie und hüpfen ekstatisch auf und ab. Saddam ist groß, Saddam ist stark, Saddam ist mächtig - diese Botschaft senden sie von Safwan, dem ersten von den Amerikanern und Briten "befreiten" Fleck des Irak aus in die Welt.

Ein US-Ranger, der von seinem Wachposten aus die Menge beobachtet, schüttelt den Kopf. "Wir sind schon ein paar Tage hier", sagt er, "und sonst sind sie sehr freundlich zu uns. Sie grüßen, und sie wollen unsere Hände schütteln. Das hier machen sie jetzt nur für die Kameras."

Kein Jubel wegen CNN

Warum aber sollten sie das tun? Bagdad ist fern, und ringsherum sind nur die beige-gescheckten Wüstenuniformen der neuen Herren von Safwan zu sehen. Der Ranger hat eine Erklärung: "Auch Saddam schaut CNN." Da hat er Recht, und vor kurzem dürfte das tatsächlich auch den 16.000 Einwohnern von Safwan gedämmert sein, die in der Mehrzahl wohl noch nie in ihrem Leben die Botschaften aus Atlanta empfangen haben. Mittlerweile wissen sie, dass fast alle anderen diesen Sender schauen - und dass zu sehen war, wie sie am ersten Tag des Krieges die einrollenden Truppen mit Jubel empfangen haben.

Damals haben sie gewunken in Safwan. Doch heute steckt der Krieg immer noch fest in Basra, nicht einmal dreißig Kilometer entfernt im Süden, und in Umm Kasr, knapp 20 Kilometer weg im Westen. "Schau dir das doch an", sagt Fahad und zeigt angewidert auf das, was als humanitäre Hilfe gedacht war und nun im heillosen Durcheinander versinkt. Wenn sich ein Fernsehteam nähert, zieht er sein rot-weißes Tuch hoch über Kinn und Nase, bis nur noch ein Augenschlitz zu sehen ist, und seinen Vornamen will er allein unter einer Bedingung nennen: "Du musst schreiben, dass Saddam stark ist."

Fahad hält sich abseits des Tumultes. Er ist Fahrer von Beruf, und das macht sich nun bezahlt. Seinen wuchtigen, vom Rost und den Jahren angefressenen Chevrolet-Jeep Baujahr 1983 hat er auf der anderen Seite der Straße geparkt, wo er auf die Helfer wartet, die ihm den Wagen mit immer neuen Paketen beladen. "Für meine Familie mit den Brüdern, den Frauen und den 21 Kindern", sagt er in gebrochenem Englisch. Zehn der Kinder sind die eigenen, zwei Ehefrauen hat er zu versorgen.

Er könnte dankbar sein für die Kisten hinten im Laderaum, doch das wäre wohl zu viel verlangt. Fahad ist wütend, nein, er ist außer sich. "Seit Tagen haben wir kein Wasser und keinen Strom. Nachts können wir nicht schlafen wegen der Flugzeuge", schimpft er. "Unter Saddam hatten wir wenigstens Wasser, Essen, Licht und Schlaf in der Nacht." Geschichten wie diese zeigen: Die Herzen der Iraker, so wie es US-Präsident George Bush verheißen hat, haben die Amerikaner noch nicht gewonnen in diesem Krieg.(DER STANDARD, Printausgabe, 28.3.2003)