Marie Rodet untersucht im Rahmen des Projekts "Gender, Migration und Sklaverei in Mali/Westafrika" die Zusammenhänge zwischen Gender, Migration und Mobilität.

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Forschungsaufenthalte führen sie immer wieder für einige Monate nach Mali, wo sie in detektivischer Kleinarbeit Archivmaterial auswertet, das sich teilweise in schrecklichem Zustand befindet. Auf dieses Archiv im Bild oben ist Marie Rodet selbst gestoßen ...

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... und so sieht es heute, nach viermonatiger Schwerstarbeit aus.

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In den Archiven betrachtet Rodet vor allem Gerichtsfälle wie Scheidungs- und Sorgerechtsstreitigkeiten ...

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... aber auch die politischen und wirtschaftlichen Berichte der Kolonialbeamten, welche den Kontext für die Gerichtsdokumente herstellen.

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Karte von Französisch-Westafrika im Jahre 1904, ein Jahr bevor die Sklaverei von den französischen Kolonialbehörden abgeschafft wurde. Marie Rodets Forschungsschwerpunkt liegt in der Region Kayes.

Karte: Marie Rodet

Im August 2009 sollte ein neues Familiengesetz den Frauen von Mali zu einer besseren Stellung in der Gesellschaft verhelfen: Unter anderem sollte das Heiratsalter auf 18 Jahre heraufgesetzt, das Erbrecht für Witwen verbessert werden und Frauen nicht mehr zum Gehorsam gegenüber ihrem Ehemann verpflichtet sein. Doch die Einführung, für die Frauenorganisationen schon seit Jahren kämpfen, scheiterte am vehementen Protest islamischer Geistlicher und führender Muslime. Malis Präsident Amadou Toumani Toure, der als Befürworter der Änderung gilt, gab das Gesetz zur Überarbeitung an das Parlament zurück.

„Die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Frauen in Mali heute leben, sind unter anderem auch eine Folge der Fluchtbewegungen nach dem Ende der Sklaverei, die zwar 1905 offiziell abgeschafft wurde, aber noch bis zur Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1960 sehr verbreitet war", schildert Afrikawissenschaftlerin und Historikerin Marie Rodet. Die Hertha-Firnberg-Stipendiatin beschäftigt sich seit Jahren mit der Geschichte und den Fluchtstrategien westafrikanischer SklavInnen aus der Gender-Perspektive. Im Rahmen ihres laufenden Forschungsprojekts untersucht sie die Zusammenhänge zwischen Gender, Migration und Mobilität in der von Frankreich kolonialisierten Region Kayes von 1890 bis 1920 - eine Zeit, die stark von Fluchtbewegungen der SklavInnen geprägt war.

Unterdrückung und Ausbeutung

Der Sklavenhandel durch Kolonialmächte war bereits im Jahre 1818 abgeschafft worden, was weiterhin andauerte, war die Unterdrückung und Ausbeutung von AfrikanerInnen durch AfrikanerInnen. Rodet untersucht die Befreiungsstrategien und den Aufbruch beider Geschlechter, den Schwerpunkt legt sie aber auf geflohene Frauen, da diese in der Geschichtsschreibung bisher kaum erwähnt wurden. Wie die Forscherin herausfand, spielten Frauen in den Fluchtbewegungen eine bedeutende Rolle: „Bisher wurde angenommen, dass es Männern leichter gefallen sein musste, zu flüchten und dass Frauen, die durch ihre produktive und reproduktive Arbeit 'wertvoller', aber durch Versklavung sowie durch ihre Männer auch doppelt unterdrückt waren, eher geblieben sind, weil sie Kinder und wichtige Funktionen in den Dörfern hatten. Nach meinen Quellen machten aber die Frauen den Großteil der geflohenen SklavInnen aus."

Als Quellen für ihre Nachforschungen dienen der Wissenschafterin Rechtsdokumente und Berichte aus den ehemaligen Kolonialarchiven in Mali (Bamako und Kayes) und in Dakar, der damaligen Hauptstadt von Französisch-Westafrika. In diesen Archiven, deren Material sie zum Teil selbst aufarbeitet, betrachtet sie vor allem Gerichtsfälle wie Scheidungs- und Sorgerechtsstreitigkeiten, aber auch die politischen und wirtschaftlichen Berichte der Kolonialbeamten, welche den Kontext für die Gerichtsdokumente herstellen. Diese Dokumente ergänzt Marie Rodet durch die Erkenntnisse aus zahlreichen Interviews mit Nachkommen von SklavInnen in der Region von Kayes.

Aufbruch

Ab 1890, also bereits vor der offiziellen Abschaffung der Sklaverei in Westafrika durch die französischen Kolonialmächte, begannen die SklavInnen schrittweise, ihre ehemaligen „BesitzerInnen" zu verlassen. Viele Frauen, die mit ihren Sklavenhaltern verheiratet waren, verließen sogar ihre Kinder und versuchten, diese später nachzuholen. Ab 1903 ermöglichten Kolonialgerichte ihnen, sich offiziell scheiden zu lassen und das Sorgerecht für die Kinder zu beantragen. Die Kinder gehörten damals automatisch dem Mann, sobald er der Familie der Frau mittels offiziellem Heiratsvertrag Geld bezahlt hatte, um sie heiraten zu dürfen. Im Falle der Sklavinnen wurde diese Zahlung jedoch fast nie geleistet. Die Sklavenhalter heirateten die Sklavenfrauen oft nur, um sie mit Kindern an sich zu binden. Konnten die Frauen später vor dem Kolonialgericht jedoch beweisen, dass die Mitgift nicht bezahlt worden war, dann war die Ehe nicht offiziell bzw. hatte der Mann im Falle einer Scheidung kein Recht auf die Kinder.

Mehr als eine Million SklavInnen verließen zwischen 1905 und 1912 ihre ehemaligen Besitzer. Nicht alle hatten den Mut dazu, wenn sie nicht wussten, wie sie sich alleine ein neues Leben schaffen sollten. SklavInnen, die beschlossen, wegzugehen, nutzten dafür aber jede Möglichkeit, erklärt Marie Rodet: „Für Frauen war es jedoch einfacher, denn sie konnten sich andere Männer suchen, um abgesichert zu sein, so zum Beispiel Armeeangehörige oder Kolonialbeamte, die sie in der Stadt trafen, während sie für den Sklavenhalter Erledigungen machten. Männer hingegen mussten sich erst Felder suchen und diese bestellen, um sich ein Überleben nach der Flucht zu sichern." Frauen brachen nur selten alleine auf, viele flohen als Familie oder in familiären Netzwerken mit Menschen, die aus derselben Heimat kamen. Viele ehemalige SklavInnen versuchten im Zuge des Exodus auch, ihre Stammfamilien, von denen sie durch die Verschleppung der Sklavenhändler getrennt worden waren, wiederzufinden.

Kontrolle der Frauen

Der starke Exodus in den Jahren nach der Abschaffung der Sklaverei 1905 brachte das gesellschaftliche Gefüge in und um Mali gehörig durcheinander, da SklavInnen mit 40 bis 60 Prozent Anteil an der Gesamtbevölkerung große Bedeutung für das Wirtschaftssystem hatten. Als die Kolonialbehörden sich der Folgen bewusst wurden, setzte ein plötzliches Umdenken ein, das vor allem für Frauen, die den Großteil der Flüchtenden ausmachten und nun als Arbeiterinnen auf den Feldern und in den Haushalten fehlten, Konsequenzen hatte: Hatten sich die Behörden unmittelbar nach der Entsklavisierung für die Rechte der ehemaligen Sklavinnen eingesetzt, so versuchten sie kaum zehn Jahre später, diese durch strengere Gesetze im Land zu behalten.

Zwar wurde auch versucht, Männer an der Flucht zu hindern, die als Steuerzahler und als  Arbeitskräfte in der Armee gebraucht wurden, bei Frauen wurde aber konsequenter vorgegangen. „Dorfchefs und andere einflussreiche Männer hatten kein Interesse daran, dass die Frauen gehen, denn sie hielten die Familien und Dörfer zusammen. So wurden etwa Scheidungen erschwert oder verhindert oder das Geld als Mitgift für die Familie der Braut wurde im Nachhinein bezahlt und die Frau damit zur Ehe gezwungen", schildert Marie Rodet. „Mit diesen Maßnahmen kämpfte man nicht nur gegen die wirtschaftlichen Auswirkungen, sondern auch gegen das Ende des traditionellen afrikanischen Familienkonzepts als mögliche Folge des Exodus, da die Frauen der Kern der Familie sind. Kontrollierte man die Frauen, dann kontrollierte man auch die Gesellschaft."

Folgen bis heute spürbar

Bis heute seien die Folgen der Sklaverei, die sich auch auf das Privatleben in den Haushalten auswirkte, in dem vom Patriarchat geprägten Land spürbar, betont die Forscherin: „Es gibt nach wie vor ein veraltetes Gesetz, dass die Flucht von Frauen aus dem Haushalt verhindern soll: Wenn der Mann nicht einverstanden ist, dass die Frau geht, dann kann diese dafür ins Gefängnis kommen. Dieses Gesetz wird in der Praxis kaum mehr angewandt, aber theoretisch gilt es. Es ist im Strafrecht untergebracht - auch das für heuer geplant gewesene neue Familiengesetz hätte daran nichts geändert." Sehr wohl sei im neuen Gesetz jedoch die Einführung der einvernehmlichen Scheidung ohne Schuldfrage vorgesehen. Dafür, wie für die zahlreichen anderen geplanten Verbesserungen, müssen die Frauen von Mali aber nun erst recht weiterkämpfen. (isa/dieStandard.at, 8.10.2009)