Der Mensch im Spiel der Ideologien. Der Belgier Sidi Larbi Cherkaoui zeigt "Apocrifu" im Festspielhaus St. Pölten.

Foto: FSH St. Pölten

Ein Spiel mit in Büchern verfassten Manifesten des Glaubens und der Politik.

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St. Pölten - Eine große Behauptung des zeitgenössischen Tanzes ist, dass alles, was die Menschheit bewegt, erforscht und anstrebt, immer und unvermeidlich mit dem Körper zu tun hat. In seinem Stück Apocrifu, das eben im Festspielhaus St. Pölten zu sehen war, leuchtet der belgische Choreograf Sidi Larbi Cherkaoui das Herz dieser Behauptung aus.

Cherkaoui ist mit 32 Jahren ein Shooting Star des Gegenwartstanzes, den der neue Leiter des Festspielhauses, Joachim Schlömer, künftig mindestens zweimal pro Saison nach St. Pölten holen möchte. Wie sein Ziehvater Alain Platel definiert Cherkaoui den Körper über die sozialen Dynamiken, in die er verstrickt ist. Diese formen Gesellschaften und Kulturen mitsamt ihren Konflikten.

In Apocrifu wird auf diesen sozialen Körper und seine historische Prägung durch Texte zugegriffen. Drei junge Männer, darunter der Choreograf selbst, und eine männliche Marionette bewegen sich auf, in und mit Büchern über die Bühne. Sieben weitere Männer bilden den korsischen A-cappella-Chor A Filetta. Die Texte ihrer Lieder korrespondieren mit jenen Büchern, die Cherkaoui als besonders bedeutend einordnet: religiöse und weltliche Schriften, die Herrschaftsansprüche über Menschen formulieren.

Wegen dieser Bücher können Menschen zu Marionetten werden. Cherkaoui geht davon aus, dass sich die großen Glaubensschriften häufig aus den Apokryphen von Konkurrenzideologien entwickelt haben. Apokryphen sind Texte außerhalb des offiziellen Programms einer Ideologie. Der Choreograf kritisiert mit seiner Reflexion dieses Phänomens die Alleinherrschafts- und Wahrheitsansprüche in dem kulturdarwinistischen Konkurrieren von Ideologien.

Er lässt die drei Darsteller verschmelzen, mischt Tanzformen, Texte und Klangbilder verschiedener Kulturen und zwingt sie zu einem gemeinsamen Tanz. Dieser beschreibt einen tragischen, gewaltsamen und blutigen Weg. Die Marionette verselbstständigt sich und macht ihrerseits Menschen zu Marionetten. Sie sind es, die im Namen ihres Glaubens manipulieren, kämpfen und töten.

Fleisch und Blut

Doch sterben müssen nur Körper aus Fleisch und Blut. Die Marionette feiert immer wieder Auferstehung. In Apocrifu werden Bücher schließlich von Schwertern abgelöst. Die Marionette tritt in einem uniformen Kampfgewand von Managern und Politikern auf: dem Anzug. Dazu erklingen etwa das Kyrie, der liturgische Benedictus-Text oder ein georgisches Schlaflied.

Sidi Larbi Cherkaoui hat kein optimistisches Stück geschaffen, obwohl er seine Klage stellenweise mit Humor unterfüttert. Doch die Erheiterung ist nicht von Dauer. Witzige Szenen gab es ja auch schon in seinen früheren Arbeiten, etwa in Foi oder Myth, in denen er letztlich die Methode nutzte, Kritik an Verhältnissen in ausschweifend gefühliger Ästhetik zu formulieren. (Helmut Ploebst, DER STANDARD/Printausgabe, 10./11.09.2009)