Das Syndrom wurde 1885 erstmalig von dem französischen Arzt Georges Gilles de la Tourette beschrieben.

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Haare zwirbeln, Augenblinzeln, ständiges Räuspern, Schniefen oder Herumbeißen auf einem Ärmel - Kinder neigen zu solchen Verhaltensweisen. Die Eltern sind irritiert. Die Hoffnung, dass es sich um eine bloße Marotte handelt, bestätigt sich manchmal nicht.

Marotte, harmloser Tic oder Tourette-Syndrom? Mit dieser Frage ist Kirsten Müller Vahl, Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie an der Medizinischen Hochschule in Hannover tagtäglich konfrontiert. In der Tat erinnern Marotten offenkundig an Tics. Viele Kinder wie auch Erwachsene verschaffen sich mit den seltsamsten Angewohnheiten unter anderem Erleichterung in angespannten Situationen. Sie wieder loszuwerden ist möglich, vorausgesetzt man besitzt genug Willensstärke.

Chronische Erkrankung

Nicht so, wer tict. Tics sind keine eigenwilligen Spleens und auch keine psychischen Störungen. Die eigene Willenskraft ist beim Tic aus dem Spiel. Egal ob es dem Betroffenen gefällt oder nicht, stereotype Bewegungen und obszöne Lautäußerungen verlassen unkontrolliert den Körper. „15% aller Grundschulkinder entwickeln vorübergehende Tics" weiß die deutsche Tourette-Expertin und zieht damit eine scharfe Grenze zum Tourette-Syndrom. Während harmlosere Tics meist innerhalb eines Jahres wieder verschwinden, ist das Tourette-Syndrom als chronische Tic-Störung lebenslänglich präsent.

Die unterschiedliche Ausprägungen des Tourette-Syndroms lassen jedoch Zweifel an seiner Unheilbarkeit aufkommen. Denn fast immer verlieren auch die chronischen Tics im Erwachsenenalter massiv an Intensität. Diskrete Symptome entgehen daher nicht nur der Aufmerksamkeit des Betrachters, sondern häufig auch den Betroffenen selbst. „Formal betrachtet, bezeichnet das niemand mehr als Krankheit. Ausgeheilt ist die Erkrankung in den meisten Fällen jedoch nicht. Sie ist nur deutlich gebessert", beschreibt Müller-Vahl.

Nicht zuletzt wegen dieser Bandbreite an klinischen Erscheinungsformen bereitet eine exakte Definition dieser hirnorganischen Erkrankung der Fachwelt seit Jahren Probleme. Während das Tourette-Syndrom bis vor kurzem noch Seltenheitswert besaß, sind die Experten mittlerweile davon überzeugt: So selten ist das Tourette-Syndrom eben doch nicht. Nach aktuellem Stand erfüllen 1% aller Menschen die Kriterien der Diagnose Tourette. Viele davon leben mit sehr milden Varianten und sind in ihrem Alltag praktisch unbeeinträchtigt.

Kurzfristig unterdrückbar

Zwischen acht und 37 Prozent aller Patienten sehen sich jedoch mit dem permanenten Unverständnis ihrer Umgebung konfrontiert. Denn wer unvermittelt grunzt, fäkale Ausdrücke herausschreit oder andere Menschen unsittlich berührt, ist wenig gesellschaftsfähig. Manchen erwachsenen Betroffenen gelingt es ihre Tics willentlich für eine kurze Weile zu unterdrücken. Die Erklärung dafür liegt in einem Vorgefühl, einem spürbaren Drang, der den Tics häufig vorausgeht. „Das Vorgefühl dient als Ausgangspunkt, um den Tic kurzzeitig zu unterdrücken. Wird der Drang übermächtig, dann zieht es der Betroffene vor zu ticen, damit das unangenehme Vorgefühl endlich verschwindet", weiß Müller-Vahl.

Diese Momente der Kontrolle sind nicht von Dauer, sodass das Leben der Patienten oft eine nicht enden wollende Leidensgeschichte ist. „Im Mittel liegt die Latenz zwischen Symptombeginn und Diagnosestellung beim Tourette-Syndrom bei zwölf Jahren", sagt Müller-Vahl und betont, dass die frühe Diagnose und Aufklärung, auch ohne Heilungsaussichten, den Betroffenen bereits eine erhebliche Erleichterung bringt. Die Akzeptanz der eigenen Erkrankung ist umso wichtiger, als der Einsatz konventioneller neuropsychiatrischer Medikamente keine langfristigen Erfolge verspricht. Neben dem alternativen Versuch den Betroffenen mit Hilfe von Cannabis zu einer Symptomverbesserung zu verhelfen, gibt es in den USA seit kurzem auch einen verhaltenstherapeutischen Ansatz, der sich Gewohnheits-Umkehr-Training nennt. „Hier macht man sich das angesprochene Vorgefühl der Patenten zunutze. Der Hintergedanke dabei ist, bereits das kindliche Gehirn soweit zu trainieren, dass es selbstständig das Vorgefühl unterdrückt beziehungsweise den Tic in eine andere Bewegung umleitet", erklärt die deutsche Neurologin. Große Erwartungen stellt sie an diese psychotherapeutische Methode nicht. Vielleicht, weil sie die Hoffnungen beziehungsweise Ängste der Patienten nur unnötig schüren, vielleicht aber auch, weil es dem Vorurteil, dass diese Erkrankung einen psychischen Hintergrund besitzt, einmal mehr Handhabe bietet. (Regina Philipp, derStandard.at, 20.10.2009)