Eine Gruppe wunderbarer Musiker begeigt ein Doku-Drama über "Moskau" : Warum ist diese Weltstadt ein Zirkus?

Foto: Steirischer Herbst

Die Welt ist schlecht; aber warum formuliert das Festival nichts dazu?

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Graz - Sechs Scheinwerfer strahlen honiggelb auf. Ein Hemd fällt wie ein Stück Taubenkot aus dem Schnürboden herab. Ein ganzer Schwall von Kleidungsstücken folgt dem Textil nach, als setzte es im Grazer Orpheum einen regelrechten Platzregen: Sechs Argentinier, alles gestandene Mitdreißiger, erzählen unter der Zuhilfenahme solcher Leerformen das Ungemach ihrer eigenen Existenz nach.

Mi Vida Después: Wir befinden uns mitten in den Ausklängen des Steirischen Herbstes. Das Merry-go-round-Theater der besonders pfiffigen Festivalkuratoren huldigt mit feierlich verschleiertem Blick noch einmal dem grässlichen Phantom der Weltzuständigkeit.

Argentinien also muss es diesmal sein. Dieses Land erduldete zur Mitte der 1970er-Jahre ff. eine Militärdiktatur, die umso öder war, als sie 1978 auch noch fußballherrlich überstrahlt wurde (Mario Kempes schoss das Weltmeistertor gegen Holland). Sechs Mittdreißiger erzählen: als wären sie Angehörige einer Dokumentationsdienststelle, die besonders beflissen - und latent von sich selbst ergriffen - ihr bisschen Kindesweh zur Condition humaine hinauferklären.

Natürlich war die postperonistische Dikatur eine unvorstellbare Scheußlichkeit: Politisch missliebige Argentinier wurden einfach ins Meer geschmissen; es wurden Menschen gefoltert, getötet, ihrer Kleinkinder beraubt.

Man würgt während einer bedrückend langweiligen "Theater" -Produktion stumm an der Tatsache herum, dass mindestens in Europa niemand - oder jedenfalls nicht viele - an dem staatsautoritären Umstand Anstoß nahmen (damals). Lola Arias' Theater - sie zeichnet für Text und Regie - ist halt nur trotzdem grottenschlecht: Es jagt Turnübungsakteure und Kleinkinder und Hamster durch die nämliche Zeitmaschine. Es wühlt im längst zum Gemeingut gewordenen Fundus schlechter Klamotten und verwackelter Agfacolor-Bilder nach irgendeiner "Wahrheit", die ohne Bereitstellung der entsprechenden Zusammenhänge, die politisch und nicht bloß biografisch sein müssten, einem nichtssagenden Wust gleicht.

Säuglinge sind auch in der erzählenden Vergegenwärtigung Säuglinge. Oberlippenbärte bleiben auch im Geheimdienst: Oberlippenbärte. Die Rekonstruktion eines "autoritären Charakters" bedürfte gemeinschaftlicher Anstrengungen. Wer oder was ist es gewesen, das in rechtschaffenen Argentiniern geraubt, gemordet und gelogen hat? Der Abend Mein Leben danach (Übersetzung) schweigt sich trotz allerlei Schlagzeuggeklopfe mannhaft über sein prekäres Hauptthema aus.

Man geht - Graz ist schließlich auch bei acht Grad Celsius Flaniermeile - weiter. Auch das belgische Konzeptkunsttrio Berlin, das im Grazer Volksgarten gleich ein Zirkuszelt aufgeschlagen hat, wendet sich so nahen wie letztlich undurchdringlich bleibenden Weltausschnitten zu.

Moskau! Die Stadt des zügellosen Neureichtums! Zu diesem schönen Thema - Moskau - ertönt ein virtuos gestimmtes Piano-Quintett, das Prokofjew und Schnittke ein bisschen Philip-Glass-mäßig herunterleiert, während ein Halbdutzend Schautafeln dem Zeltbesucher förmlich ins Gesicht fährt. Der Tenor lautet: Moskau, das ist nicht zu verstehen! Es findet sich nun trotzdem - paradox genug - ein Häuflein auf Filmspur gebannter Unentwegter, die ihre Ansichten zu diesem urbanen Moloch bereitwillig kundtun.

Moskau, endlich dringlich

Dieses Nichts von Doku-Drama (natürlich eine hochwichtige "Installation" ) bleibt trotzdem eine wunderbare Produktion.

Aufgrund der Hebelgesetze von Berlin, die ihre kreisförmig angeordneten Schautaufeln auch wirklich dem Besucher ins Gesicht strecken, erfahren die Zeugenaussagen von Oppositionellen und Zirkusdirektoren, aber auch von anderen Moskauer Marginalisierten: Schwulenvertretern, Garry Kasparow et cetera, eine unbezwingliche Dringlichkeit.

Ins Ohr peitscht die Fast-Neo-Klassik. Via Bild darf man wieder einmal nachbeten: Ja, der Raubtierkapitalismus ist von Übel - zumal, wenn ihm keine adäquate Widerspruchshaltung zuwächst. Wann endlich traut sich der Steirische Herbst wieder über eine richtige Eigenproduktion drüber? (Ronald Pohl, DER STANDARD/Printausgabe, 17./18.10.2009)