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Begräbnis in Lahore nach einem Angriff von Taliban auf Polizisten vergangene Woche.

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Tausende Zivilisten sind vor den Kämpfen auf der Flucht

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Symbolbild: AP

Pakistans Militär wagt sich in die Höhle des Löwen, in die Taliban-Hochburg Südwasiristan an der Grenze zu Afghanistan. Am Wochenende die Großoffensive. Rund 28.000 Soldaten rückten von drei Seiten vor. Am Montag wurden die Kämpfe fortgesetzt.

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Islamabad/Neu-Delhi - Lange hatte Pakistans Armee gezögert, nun raffte sie sich zu einer Bodenoffensive in Südwasiristan, der Hochburg der Taliban, auf. In den ersten 24 Stunden der Operation "Pfad zur Erlösung" seien 60 Extremisten und fünf Soldaten getötet worden, teilten die Streitkräfte am Sonntag mit.

Pakistanische Regierungstruppen haben am Montag die Großoffensive mit Luftangriffen und Gefechten am Boden fortgesetzt. Am dritten Tag der Offensive gegen die Islamisten im Nordwesten des Landes bereitete die Armee den Sturm auf die Heimatstadt von Taliban-Führer Hakimullah Mehsud, Kotkai, vor. Premierminister Yousuf Raza Gilani bat die internationale Gemeinschaft unterdessen um finanzielle Unterstützung für Nothilfe und den Wiederaufbau. Nach der Flucht von mehr aus 100.000 Zivilisten vor den Kämpfen bahnt sich eine humanitäre Katastrophe an.

Die Truppen bezogen in den Außenbezirken von Kotkai Stellung, wie am Montag aus Armeekreisen verlautete. Die Stadt könnte demnach innerhalb weniger Stunden oder am frühen Dienstag in der Früh eingenommen werden. Mehsud ist der Chef der extremistischen Tehrik-e-Taliban Pakistan (TTP), die Verbindungen zum Terrornetzwerk Al-Kaida von Osama bin Laden unterhalten und hinter einer Serie von Anschlägen mit mehr als 2.300 Toten stecken sollen. Auch der Taliban-Führer Qari Hussain soll sich in Kotkai aufhalten.

Der Widerstand der Aufständischen sei bisher gering, sagte dagegen ein hochrangiger Armeeangehöriger der Nachrichtenagentur AFP. Das größte Hindernis seien selbst gebaute Sprengsätze, mit denen die Aufständischen die Straßen vermint hätten.

Kampfflugzeuge hätten in der Nacht auf Montag zahlreiche Stellungen der Aufständischen bombardiert und zerstört, sagte ein Geheimdienstmitarbeiter, der anonym bleiben wollte. Gleichzeitig rückten Soldaten aus drei Richtungen gegen die von den Extremisten gehaltene Stadt Makeen vor. Bei Gefechten am Sonntag waren nach Armeeangaben 60 Aufständische und fünf Soldaten getötet worden. Bereits im April unternahmen die Streitkräfte eine ähnliche Offensive gegen Extremisten im Swat-Tal, das jetzt wieder weitgehend unter Kontrolle der Regierung ist.

US-Vertreter zu Gesprächen in Islamabad

In der Hauptstadt Islamabad erörterten unterdessen Pakistans Premierminister Yousuf Raza Gilani und der Kommandant der US-Streitkräfte im Nahen Osten, General David Petraeus, die Sicherheitslage in der Region. Gilani habe seinem Gesprächspartner versichert, dass die Regierung die Militäroffensive in Süd-Waziristan voll unterstütze, berichtete der staatliche Sender PTV am Montag. Pakistan ist einer der wichtigsten Verbündeten der USA im Kampf gegen den Terrorismus.

Auch der einflussreiche US-Senator John Kerry ist am Montag zu Gesprächen mit der Regierung und Militärführern in Pakistan eingetroffen. Kerry sollte nach Angaben der US-Botschaft in Islamabad zunächst Armeestabschef Ashfaq Kayanai treffen, danach waren Gespräche mit Präsident Asif Ali Zardari, Ministerpräsident Gilani und dem pakistanischen Oppositionsführer Nawaz Sharif geplant. Kerry will das US-Hilfspaket für Pakistan in Höhe von 7,5 Mrd. Dollar (5,04 Mrd. Euro) gegen Kritik aus Pakistan verteidigen.

Die am Donnerstag gebilligte Finanzspritze soll vor allem der wirtschaftlichen Entwicklung dienen und ist unter anderem für die bessere Ausstattung von Schulen und die Ausrüstung der Polizei vorgesehen. Langfristig wollen die USA so ein Gegengewicht zu den radikal-islamischen Kräften in Pakistan schaffen. Zahlreiche Parlamentarier in Islamabad fürchten allerdings einen Eingriff in die Souveränität ihres Landes. Auch das Militär steht der Hilfe kritisch gegenüber.

Flüchtlingskatastrophe

Nach der Flucht von mehr aus 100.000 Zivilisten vor den Kämpfen zwischen Regierungstruppen und Taliban bahnt sich im Nordwestens von Pakistan eine humanitäre Katastrophe an. Mit Blick auf den baldigen Winter bat Premierminister Yousuf Raza Gilani die internationale Gemeinschaft am Montag um finanzielle Unterstützung für Nothilfe und den Wiederaufbau, wie die Regierung in Islamabad mitteilte.

Anschläge

Die Extremisten hatten zuvor Staat und Militär herausgefordert. In zwei Wochen starben 160 Menschen, kaum ein Tag verging ohne neues Blutbad. Ziel der Attacken waren auch Zivilisten, aber vor allem Polizei und Sicherheitskräfte.

Die Terrorserie offenbart zwei alarmierende Entwicklungen: Zum einen brechen die Gotteskrieger aus ihren alten Revieren in den afghanischen Grenzprovinzen aus und schlagen zusehends im Punjab, der letzten sicheren Machtbastion des Staates, zu. Zum anderen scheinen sie immer enger mit Al-Kaida und Profi-Terrorgruppen zusammenzuarbeiten und ein landesweites Terrornetz zu spinnen.

Der mächtige Geheimdienst ISI hatte mit dem CIA einst die Gotteskrieger erschaffen, um sie gegen die Russen in Afghanistan loszuhetzen. Nun wird man die Geister, die man rief, nicht mehr los. Man hat den Eindruck, dass Teile der Gotteskrieger außer Kontrolle sind. Der Konflikt erscheint immer mehr als Machtprobe zwischen den Taliban und ihren alten Ziehvätern im Militär. Bemerkenswert war der tollkühne Angriff auf das Militär-Hauptquartier in Rawalpindi vor gut einer Woche, als die Extremisten dort Geiseln nahmen. Das war eine grandiose Demütigung der Armee. Diese antwortete nun mit der Offensive in Südwasiristan, wo der Talibanverband TTP und sein neuer Führer Hakimullah Mehsud, aber auch Al-Kaida sitzen. Damit folgt sie den Direktiven der USA, die jenseits der Grenze in Afghanistan kämpfen und die Taliban so in die Zange nehmen wollen.

Ambivalentes Verhältnis

Das Verhältnis von Pakistans Militär zu den Taliban ist bis heute ein ambivalentes. Einerseits sieht die Armeespitze, dass diese auch ihre eigene Macht gefährden. Andererseits werden die Gotteskrieger immer noch als nützliche Kettenhunde angesehen. Man hat den Eindruck, dass sich Pakistans Führung darin flüchtet, die Aufständischen in gute und böse Taliban zu unterscheiden: Gute Taliban sind jene, die nur in Afghanistan kämpfen und sich in Pakistan selbst benehmen. Böse Taliban sind diejenigen, die wie Hakimullah Mehsud und seine TTP auch in Pakistan Terror säen. Im Westen mag man dies als Doppelspiel verurteilen. Aber dahinter stehen pragmatische Überlegungen. Selbst die USA denken inzwischen laut über das Undenkbare nach: Nämlich mit den afghanischen Taliban zu verhandeln, um Ruhe am Hindukusch zu schaffen. Pakistan wäre mit dem Klammerbeutel gepudert, würde es sich völlig mit den Taliban überwerfen und so Einfluss in Afghanistan preisgeben.

Zudem sind die Taliban, so zynisch es klingt, die wichtigste Einnahmequelle. Der Kampf gegen den Terror garantiert Pakistan riesige Finanzhilfen aus dem Westen, der fürchtet, dass die Atomwaffen in die Hände der Extremisten geraten könnten. Würde Pakistan den Taliban den Garaus machen, könnte der Geldfluss schnell versiegen. Die jüngste Anschlagsserie ereignete sich just, als in den USA ein milliardenschweres Hilfspaket zur Billigung anstand. (red/Christine Möllhoff /DER STANDARD, Printausgabe, 19.10.2009)