Der wahrlich sonderbarste Moment des Wochenendes (und vermutlich weit über dieses hinaus) spielte sich ab im englischen County Tyne and Wear, genauer im Stadium of Light des AFC Sunderland.

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Das erhebt sich passenderweise auf dem düsteren Gelände der ehemaligen Monkwearmouth Colliery, der letzten aktiv gebliebenen Kohlenmine der Stadt im Nordwesten. Sie hatte 1994 dicht machen müssen.  Das Ende der Ära der Schwerindustrie war endgültig gekommen. Diese hatte das Gesicht Sunderlands geprägt, jedoch bei weitem nicht alle idyllischen Plätzchen der Gegend überwuchern können.

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Die Mannschaft des AFC war vor den Kriegen eine große Nummer und als erste drei Mal englischer Meister (1892, 1893, 1895). Drei weitere Titel sollten später noch folgen. Wie die Stadt, die tausende Arbeiter aus Irland und Schottland anzog, hatte auch der Klub stets enge Verbindungen zu jenen Ländern. Dass er vor drei Jahren von einem nach Höherem strebenden irischen Konsortium übernommen wurde, darf also nicht unbedingt überraschen. Ganz ähnlich liegen die Verhältnisse beim Gegner in der 9. Runde der Premier League, denn bekanntlich finden sich auch im Rot des FC Liverpool dicke grüne und dunkelblaue Kleckse.

Die Reds sind Getriebene, die am unstillbaren Verlangen nach der 19. Meisterschaft irre zu werden drohen. In immer neuen Anläufen haschen sie danach - doch wie eine Fata Morgana zerrinnt der ultimative Preis jedes Mal zwischen den Fingern. Werdet locker Jungs, möchte man da rufen. Doch zumindest für die bevorstehende Auseinandersetzung standen die Vorzeichen ja gut. Die letzten sechs Matches gegen Sunderland waren gewonnen worden, einen Gegentreffer hatte man zuletzt vor sieben Jahren hinnehmen müssen.

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Rafael Benitez litt im Vorfeld der Partie an einem akuten Anfall von Hoeneßitis. Fernando Torres und Steven Gerrard lagen nach Erfüllung ihrer Pflich im Namen der Nation darnieder. Länderspiele sind der Vereine rotes Tuch. Und das färbt sich umso blutiger, wenn diesen wahrer Entscheidungscharakter mangelt. So wie im Falle Spaniens und Englands der Fall. "Unbedeutend" oder gar "unnötig" lauten dann die Adjektive, die sich den dicken Hälsen der Klubmänner entringen. "Ich habe meine Meinung", zornzäumte Benitez. Deren Details zu konturieren verlangt ungefähr so viel Fantasie wie malen nach Zahlen.   

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Und dann kam ER.

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Fett und rot rollend. Das Ding fläzte sich, provokant den Liverbird auf der Wampe zur Schau stellend, in den gästeeigenen Straf-Raum. In Umlauf gebracht zu allem Überfluss aus dem ko-rekordmeisterlichen Fansektor. Der interplanetarische Raum begann bedenklich zusammenzuschrumpfen, es drohte die Katastrophe der Kugelkollision. Dann fand sie statt. Fünfte Minute: Reinas Fuß war der falsche. Tor. Man denkt an die hamburgische Papierkugel, die letzten Mai im UEFA-Cup eine ähnliche - wenn auch dezidiert indirekter orientierte - Rolle gespielt hatte. Und fragt: Kann das, ja, darf das sein?

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Den Buchstaben des Gesetzes zufolge: Nein. Referee Mike Jones hätte bei Ansicht des unbelebten Objektes (je nachdem als Ballon oder Beachball identifiziert) das Spiel unverzüglich unterbrechen müssen, meinte eine Sprecherin der Liga. Nach dessen Entfernung wäre ein Schiedsrichterball zu verhängen gewesen. Die entscheidende Frage ist also, zu welchem Zeitpunkt das Bewusstsein des Unparteiischen tätig wurde. Beziehungsweise hätte tätig werden müssen. Pfeifen-Pensionist Jeff Winter, befragt von der Daily Mail, lässt diesbezüglich keinerlei Zweifel erkennen: Umgehend. Man müsse sich doch wundern, wie Jones und seinen Assistenten der Eindringling habe entgehen können.

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Eine andere Denkschule macht jedoch den Augenblick des Zusammenpralls von Ballon sowie dem von Darren Bent zum Schuss verdonnerten Matchball als relevante Bezugsgröße aus. Hier geht es also um das Ausmaß des Einflusses, den ein externes Wirkungsmittel (in diesem Fall der Ballon) auf den Ablauf des Spielgeschehens nimmt. Das pure Herumliegen reicht für dessen Unterbrechung also nicht aus. Hätte Ball Ballon auf dem Weg ins Tor verfehlt, Bents Treffer wäre regulär gewesen. Gleiches gilt, wenn Ball Ballon touchiert hätte, aber in der Folge weder Flugrichtung noch -geschwindigkeit hinreichend verändert worden wäre. Im Klartext: Tormann Reina hätte nicht der Chance einer Parade beraubt werden dürfen. Genau dies ist jedoch geschehen. Also: kein Tor. Allerdings - und das muss in Verteidigung des Spielleiters erwähnt werden - erschwerte die versuchte Intervention von Liverpool-Verteidiger Glenn Johnson die Vorhersage des Geschehens. Johnson hatte, Bruchteile von Sekunden vor der erfolgten Kollision, im Bestreben den Schuss zu blocken sein Bein Richtung Ball bewegt. Wäre das Vorhaben gelungen, hätte der Schiedsrichter nicht einzugreifen brauchen, alles hätte sich in Wohlgefallen aufgelöst. Alles klar? Torschütze Bent blieb jedenfalls gelassen: "Oft kommen Beachball-Abfälschereien nicht vor, aber so eine nehme ich gerne."

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Und Steve Bruce, dessen Black Cats also nicht davor zurückschreckten, auch an einem Samstag für Unglück im Scouser-Universum zu sorgen, weiß nur zu genau um die psychologischen Aspekte des ersten (und letzten) Schritts. Immerhin war er als trockener Back Teil jenes ManUnited-Teams, das 1993 nach 26-jähriger Absenz den Meisterpokal wieder in Old Trafford anlandete. "Es das erste Mal wieder zu schaffen, ist am schwierigsten. Du brauchst die Erfahrung, mit dem Druck umzugehen. Danach geht es leichter." Es lohnt, an dieser Stelle daran zu erinnern, dass Alex Ferguson sieben Jahre gebraucht hatte (und bekam!), um Manchester zurück nach oben zu bringen. Benitez befindet sich nun in seiner sechsten Saison in Anfield. Liverpool dürstet seit 18 Jahren und nach der vierten Saisonniederlage werden sich die auf Platz acht abgerutschten Roten wohl weiter darben. Bruce: "Sie haben letztes Jahr nur zweimal verloren und es trotzdem nicht geschafft. Das zeigt den Standard der Liga. Erschreckend, oder?" (Michael Robausch - derStandard.at 19.10. 2009)

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