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Die Bewohner des Armenviertels Dona Marta sind über die "Befriedungstruppen" mäßig glücklich.

EPA/MARCELO SAYAO

Um die Fehden von Drogenhändlern in den Favelas zu beenden, entsendet die brasilianische Regierung "Befriedungstruppen"

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Die Wirklichkeit hat Rio eingeholt. Zwei Wochen nach dem Jubel über den Zuschlag für die Olympischen Sommerspiele 2016 waren in der Metropole am Zuckerhut wieder einmal bürgerkriegsähnliche Szenen zu beobachten: Drogenhändler schossen einen Hubschrauber der Militärpolizei ab, bei den Gefechten in Armenvierteln starben innerhalb von drei Tagen mindestens 22 Menschen.

Umstrittener Modellversuch

Auslöser der Unruhen war der Kampf rivalisierender Drogenbanden um die Kontrolle über lukrative Kokain-Umschlagplätze. Der Spielraum für das organisierte Verbrechen wird aber enger, seitdem die Polizei im Rahmen eines umstrittenen Modellversuchs die Kontrolle über vier Favelas übernommen hat. Zumindest dort brauchen die Menschen keine Angst mehr vor tödlichen Querschlägern zu haben.

120 extra ausgebildete Uniformierte

Dona Marta im südlichen Stadtteil Botafogo ist so ein Versuchslabor für die neue Strategie der brasilianischen Behörden. Seitdem die Polizei im November 2008 die Drogenhändler in einem Großeinsatz vertrieben hat, sichert eine Einheit der neuen "Befriedungspolizei" mit 120 extra ausgebildeten Uniformierten das malerisch an einem steilen Hang gelegene Viertel. "Der Drogenhandel geht, die Polizei bleibt - für immer", verspricht Sicherheitsminister José Mariano Beltrame.

Immer mehr Touristen erkunden das Viertel

Schon aus der Ferne fallen bunte Häuserfassaden auf. Auch die letztes Jahr eingeweihte Zahnradbahn zum Nulltarif ist für eine Favela ein ungewohnter Luxus. Immer mehr Touristen erkunden das Viertel, in dem Michael Jackson 1996 einen berühmten Videoclip drehen ließ, in Gruppen oder auf eigene Faust - früher undenkbar. Oben erwartet sie ein umwerfendes Panorama: links der Zuckerhut, rechts die Christusstatue auf dem Corcovado, dazwischen gutbürgerliche Wohnviertel und am Horizont das Meer.

Bretterbuden mit Wellblechdächern

Weniger idyllisch ist die Wohnsituation der rund 10.000 Einheimischen. Im oberen Teil von Dona Marta überwiegen immer noch verschachtelte Bretterbuden mit Wellblechdächern, die Abwässer fließen in offenen Gräben hangabwärts. Dennoch kann sich Salvador de Pinto Souza (70) nicht mit dem Gedanken anfreunden, ein paar Meter weiter eine der 34 Quadratmeter großen Neubauwohnungen zu beziehen: "Wie soll ich denn da meine 20-köpfige Familie unterbringen?"

Polizisten verbieten Feste

"Für mich hat sich nicht viel geändert", meint Daniel Cunha, der das Internetzentrum leitet. "Die Medien vermitteln von den Favelas ein Zerrbild", sagt der 18-jährige Schüler, "die Drogenhändler haben sich ja nicht mit den Bewohnern angelegt." Mit den Polizisten komme es aber auch jetzt immer wieder zu Reibereien: "Manchmal gehen sie ohne Grund ins Viertel, fahren junge Leute mit lauter Stimme an, verbieten Feste."

Mauern und Überwachungskameras

Erika Souza, die 23-jährige Sekretärin der Einwohnervereinigung, stört vor allem die Mauer, die jüngst am südlichen Rand von Dona Marta hochgezogen wurde, angeblich aus ökologischen Gründen: "Die ist genauso überflüssig wie die neun Überwachungskameras, die sie gerade installiert haben." Die Bewohner würden vor vollendete Tatschen gestellt, beklagt Stadtteilaktivist Itamar Silva: "Wir wollen mitreden."

Besatzungspolitik mit autoritären Kontrollmaßnahmen

Die Kriminologin Vera Malaguti vermutet hinter der Vorgehensweise der Behörden System: "Es ist eine Besatzungspolitik mit autoritären Kontrollmaßnahmen, um die arme Bevölkerung in Schach zu halten." Dieses Modell, das soziale Konflikte mit strafrechtlichen Mitteln zu lösen versuche, habe Brasilien aus den USA importiert.

Vier von über tausend Favelas

Pierre Ávila vom Verein "Soziale Haltung", der in der Favela Musikkurse organisiert, begrüßt hingegen die Öffnung von Dona Marta für Außenstehende und die versprochenen Gelder für weitere Kulturprogramme. Ein grundlegender Kurswechsel stehe aber noch aus, sagt der Musiker: "Vier von über tausend Favelas - das ist doch nur ein Tropfen auf den heißen Stein." (Gerhard Dilger aus Rio de Janeiro, DER STANDARD Printausgabe, 21.10.2009)