STANDARD: Hatten Sie schon mal eine Denkblockade?

Klein: Selbstverständlich. Ich wäre ein schlechter Autor, wenn ich das nicht hätte. Wenn man Neues ergründet oder schafft, stößt man auf Widerstände. Das erleben wir als Denkblockade. Es ist etwas ganz Normales und ein Hinweis darauf, dass man sich ein Problem vorgenommen hat, das nicht trivial ist. Das ist nichts, wovor man Angst haben muss.

STANDARD: Wie entstehen Denkblockaden?

Klein: Sie können zwei Ursachen haben. Die erste ist, dass man eine Sache nicht genau genug verstanden hat. Da stößt man sich an einem trivial erscheinenden Problem; in meinem Fall, wie ich ein Buchkapitel aufbaue. Das scheint handwerklich. In Wirklichkeit liegt das Problem häufig tiefer: Man weiß nicht genau, was man sagen will, welche Geschichte man erzählen will. Hier hilft nichts anderes als Analyse, sich überlegen, was man will, und erst einmal das Problem zu erfassen.

STANDARD: Und die zweite Ursache?

Klein: Unser Verstand ist so gemacht, dass wir Information reduzieren und uns Dinge so einfach wie möglich vorstellen wollen. Wir denken in vertrauten Bahnen und manchmal müssen wir diese eben verlassen. Da hilft es nicht, angestrengt nachzudenken. Was viel eher hilft, ist eine Irritation; etwas, das einen rausbringt aus dem üblichen Muster des Denkens. In solchen Situationen lese ich gerne ein bisschen in Büchern, die ich gut finde. Es ist anregend zu sehen, wie andere Leute Geschichten erzählen, und durch einen Transfer fällt häufig der Groschen.

STANDARD: Das klingt nach einem Rezept gegen Denkblockaden.

Klein: Das Phänomen ist seit langem bekannt. Die Antwort ist, die Begegnung mit dem Unerwarteten zu suchen. Darum haben sich Menschen, die Neues geschaffen haben, die kreativ waren, häufig auf Reisen begeben. Sie haben die Irritation gesucht, um ihre gewohnten Bahnen des Denkens zu verlassen: Goethe in Italien, Frédéric Chopin auf Mallorca, die Maler des Blauen Reiters auf ihrer Tunisreise.

STANDARD: Fördern oder behindern unsere Schulen die Kreativität der Jugendlichen?

Klein: Ein schönes Beispiel ist Leonardo da Vinci, von dem ja mein neuestes Buch handelt. Ich vermute stark, Leonardo wäre nicht Leonardo geworden, wenn man ihn in eine moderne Schule geschickt hätte. Er hat nur eine Volksschulbildung gehabt. Schriftliches Dividieren beherrschte er zeitlebens nicht. Er hat bei einem hervorragenden Lehrmeister gelernt, Andrea del Verrocchio. Der hat in seinen Schülern das Feuer der Begeisterung entzündet. Das leisten heutige Schulen aus meiner Sicht viel zu wenig.

STANDARD: Woran mangelt es?

Klein: Nach einer gerade in Science veröffentlichten amerikanischen Studie haben Schüler bessere Noten, wenn ihre Lehrer in den Sommerferien ein Praktikum in einem Forschungslabor gemacht haben. Diese Lehrer hatten nicht besseres Fachwissen; die waren einfach begeistert. Wenn man die Kreativität der Schüler fördern will, muss man zuerst die Begeisterung der Lehrer fördern. Das andere ist, dass Leonardo in der Werkstatt von Verrocchio lernte, Fragen zu stellen. Verrocchio war Universalkünstler, Handwerker und Bauingenieur. Heute unterrichten wir unsere Kinder in Fächern. Wir bauen Grenzen zwischen den Disziplinen auf und wir vermitteln ihnen vor allem einmal Antworten, vorgefertigte Wege, bevor sie Fragen gestellt haben.

STANDARD: Fragen stellen ist also besser als auswendig lernen?

Klein: Wir messen Schüler daran, welches Wissen sie haben. Es wäre besser, sie daran zu messen, welche Fragen sie stellen. Ich spreche mich nicht dagegen aus, dass wir in unseren Schulen Wissen vermitteln. Aber ich glaube, dass Leonardos Weise zu denken, die sich nicht groß um Fachgrenzen gekümmert hat, unsere moderne Weise zu denken wunderbar ergänzen kann.

STANDARD: Waren Menschen zu Leonardos Zeit kreativer?

Klein: In der Renaissance war es insofern besonders leicht, kreativ zu sein, als die Gesellschaft für kreative Menschen durchlässig war. Leonardo, das uneheliche Kind einer Tagelöhnerin, konnte aufsteigen zum persönlichen Freund des Königs von Frankreich. Das wäre hundert Jahre früher und später undenkbar gewesen. Wir leisten uns die unglaubliche Verschwendung, dass wir viele junge Leute von der Entfaltung ihrer Kreativität ausschließen, weil sie den falschen sozialen Hintergrund haben, weil sie nicht in Schulen kommen, die ihnen Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten geben, und weil sie nicht in eine Umgebung kommen, die diese Fähigkeiten entwickelt. (DER STANDARD, Printausgabe, 21.10.2009)