Wien - "Zwei Dinge waren uns immer ein Rätsel gewesen: Wie man richtig zur karibischen Musik tanzt, so eng an den Partner geschmiegt, und was mit dem Heiraten aus Liebe auf sich hat."

So lakonisch beginnt Mindeles Liebe, der neue Roman von Memo Anjel. Der jugendliche Erzähler gibt weiter nichts von sich preis - es geht um eine von den griechischen Inseln eingewanderte, verzweigte sephardische Familie im Medellin der 1950er Jahre. Das Tanzen zur karibischen Musik wird erst die nächste Generation lernen, mit der Liebe aber muss sich die Familie schon jetzt auseinander setzten: Die nahe Verwandte Mindele heiratet einen Freund des Vaters, dieser aber hat es auf das Geld von Mindeles Mutter abgesehen und ist ein Schürzenjäger, und Spieler. Gleichzeitig liebt Mindele aber den Onkel Chaim, der bereits mit Rivka verheiratet und mit allen anderen Mitgliedern der Familie damit beschäftigt ist, entlang verschiedener mittelständischen Unternehmungen allesamt über Wasser zu halten.

Der Schauplatz des kurzen Familienromans ist der Essenstisch, hier leben alle nebeneinander die Schwierigkeiten ihrer Vorstellungen vom Leben aus, hier bekommt die Schwester des Erzähler einen Satz heißer Ohren für vorwitzige Nachfragen, hier ist es besser, wenn die Sache zwischen Mindele und Chaim unausgesprochen bleibt, da sie sonst an Gestalt gewinnen und die Verhältnisse empfindlich stören würde.

Memo Anjel erzählt die Beziehungen der Familienmitglieder zueinander mit Gelassenheit. Seine Figuren und deren innere Auseinandersetzungen schildert in einem bezaubernden Ton, der schon den 2005 erschienenen Roman Das meschuggene Jahr (Rotpunkt) ausgemacht hat. Wir erleben eine Familie, die nur nebensächlich mit Flucht und Vertreibung beschäftigt ist, hauptsächlich aber mit Aufbau und Überleben. Allerdings stellen die Kinder dem Familienbild der Eltern immer mehr ihre Vorstellungen entgegen. Und in dieser ist die Liebe von Mindele und Chaim ein geringeres Problem, gleichzeitig überbrücken sie die Distanz zu den Vorstellungen der Eltern mit ironischer Nonchalance. Schließlich führen alle Schrullen und Verwirrungen immer wieder zum Mittelpunkt zurück: zum Esstisch, an dem sich alle vereinen. (Lennart Laberenz / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 22.10.2009)