Österreich, ein Land ohne Großmchtabsichten, dafür aber hübschen Minderwertigkeitskomplexen.

Foto: Robert Newald

Ja, Österreich ist schön, aber Salzburg ist am schönsten. Tante Gesine hatte das früher immer gesagt, zweimal war sie mit der Nazi-Organisation "Kraft durch Freude" (KDF) da gewesen und "Schönheit vergeht nicht!" war ihr Satz - und der Nachsatz, später: "Das hat nicht mal der Führer hingekriegt."

Also fuhr ich nach Salzburg, das heißt gefahren ist ein anderer, ich bin getrampt, ich war zwanzig, in dem Alter hatte man damals noch kein Auto. Als ich dann nachts aus dem Peterskeller stolperte - ich vertrug noch so gut wie gar nichts - stand ich, herumirrend auf der Suche nach der Jugendherberge, plötzlich vor einer düsteren Wand, und als ich den Kopf hob, sah ich, dass diese Wand kein Ende hatte, sie war riesig und steil und mitten in der Stadt, eine Felswand. Das war mein erstes Zusammentreffen mit Österreich; ich erschrak zutiefst und fand es überhaupt nicht schön. Am nächsten Tag bin ich in Mozarts Geburtshaus gegangen, habe versucht herauszufinden, was eine Haarlocke mit göttlicher Musik zu tun hat, und bin weitergetrampt, übrigens mit einem Porsche, dem einzigen, in dem ich bis auf den heutigen Tag je gesessen bin, und gefahren sind wir auf der Bundesstraße, nicht um mehr von der Landschaft zu haben, sondern weil es noch keine fertige Autobahn gab. Das war 1962.

Starke Wenden

Wien sah damals aus wie Tante Gesine auf Wienerisch, grau, voller Falten und irgendwie, na ja, tantenhaft. Aber gegen die Sprüche und Sager, die ich damals hörte und zum Teil auch verstand, waren die Sätze von Tante Gesine nichts. Und die Hamburger Kunsthalle war nichts gegen das Kunsthistorische, und zwar gar nichts. Ich hatte das Gefühl, dass dort so ziemlich alles hing, was ich aus den Kunstbüchern meiner Familie kannte. Außerdem gab es in Wien - aber auch schon in Salzburg, was ich damals gar nicht mitgekriegt hatte - Fischer von Erlach, über den mein Vater seinen Pilotenfreunden auf dem Fliegerhorst in Brandenburg einen Abendvortrag gehalten hatte. Dabei waren die meisten seiner Zuhörer eingeschlafen, aber nicht, weil mein Vater so langweilig gewesen war, sondern weil die Piloten vor lauter Jagdfliegerei kaum noch zum Schlafen gekommen waren.

So wurde es mir jedenfalls immer erzählt, aber vermutlich ist die Wahrheit die, dass die Soldaten sich Anfang 1945 einfach nicht mehr für Fischer von Erlach interessiert haben. Zu der Zeit war die Geliebte meines Großvaters, eine Wienerin, schon längst die Frau meines Onkels geworden. Aber Tante Gesine und Tante Theres haben einander nie kennengelernt.

Ich traf damals auch meine ersten Österreicher, die beruflich mit Kunst zu tun hatten, das waren die Wärter im Kunsthistorischen Museum. Ich will nicht sagen, dass sie mir damals mehr wie Aufseher vorgekommen sind, aber ihre Blicke verfolgten einen doch so, als hätte man ein kleines Säurefläschchen unterm Hemd. Dabei hatte ich nicht mal einen Flachmann bei mir.

Heute kenne ich etliche von ihnen persönlich (sie mich allerdings nicht), ich habe eine Jahreskarte für das Kunsthistorische Museum und nutze sie auch. Die Idee, selbst Museumswärter zu werden, habe ich natürlich damals nicht erwogen. Inzwischen liebäugle ich gelegentlich damit. Jeden Tag Veroneses Lukrezia zu behüten, damit ihr nicht noch Schlimmeres widerfährt, ist doch fast so gut, wie Arzt im Urwald zu sein - der ich allerdings auch nicht bin.

Als ich 1975 als in Frankfurt am Main geborener Norddeutscher aus München nach Salzburg kam, in den Residenz-Verlag, hatte sich die deutsche Literatur seit einem Jahrzehnt zunehmend politisiert, während die österreichische dabei war, sich von der sogenannten experimentellen Form wieder dem konventionelleren Erzählen zuzuwenden. Handke schrieb das Wunschlose Unglück, Artmann den Dr. Unspeakable Frischmuth schrieb ihre Sophie Silber-Trilogie, und alle drei hatten es ja wahrhaftig schon mal ganz anders gespielt.

Das Herz von Wien

Ich selbst, lang genug ein Freund von Heißenbüttel, Pastior und Mon, fand aber keineswegs, dass die Österreicher da in irgendetwas zurückfielen, vielmehr schien mir auf einmal - ich hatte inzwischen im dritten Anlauf Stifters Nachsommer zu Ende gelesen -, dass sie nicht nur wie die Deutschen zeigen wollten, was sie konnten, sondern mitteilen, was sie erfahren hatten, und zwar mit der Sprache und mit dem Leben gleichzeitig. Die sprachbewusst erzählte Lebensgeschichte, die sich vor keiner Erschütterung ins Theoretische flüchtet, das war's. Ich meinte, längst begriffen zu haben, wie viel von solcher Erzählung schon in Schönbergs op. 26 steckt.

Aber das ist 20. Jahrhundert, und wir sind ja seit kurzem im 21. Österreich hatte vor allem immer dann seine starken Zeiten, wenn die Jahrhunderte sich wendeten: Vom 17. zum 18. zum Beispiel war da jener Fischer von Erlach, der mit festem Prunk dem Felix Austria noch einmal den großen Auftritt bot. Vom 18. zum 19. gab es die Weltkunst der Wiener Klassik und vom 19. zum 20. das Aufmischen von Traum und Wirklichkeit, wo sich das Kunstsinnige mit dem Tief- und Hintersinnigen verbindet. Und jetzt, vom 20. zum 21.? Das muss vorläufig mal offenbleiben.

Es gibt übrigens mitten in Wien ein "Institut für den Wiener Klang" , also ein Institut, das etwas untersucht und pflegt, was es angeblich in Wiener Orchestern und Ensembles ganz spezifisch gibt, unverwechselbar und, wie ich mir immer denke, auch unhörbar. Und doch vorhanden! Das muss das Herz von Wien sein. Wir haben, sagt der Wiener Konzerthausgeher und Staatsopernstehplatzsteher, einen Klang, der hat alles wie überall und noch etwas dazu, ein Muttermal, einen Kropf sozusagen, ganz einzigartig, und wenn die Welt nicht längst halbtaub wäre, könnte/würde/müsste sie ihn auch hören, den Wiener Klang, diesen köstlichen Klang der Wiener Klangklassik, diesen Schlüssel zur Schönheit. Mit ihm ist Tante Theres aufgewachsen, mit ihm ist sie gestorben, ihn hat sie geliebt ihr Leben lang; Tante Gesine hatte so was nicht, ihr Mann sang Shantys, und zwar so, wie seine Kehle wollte.

Ein solches Institut in Österreich zu wissen hat etwas ungemein Beruhigendes. Das Behüten und Weitertragen, auch das von nichts, ist eine schöne Aufgabe, und wer ihr mit Hingabe nachkommt, der hat für seine Nachkommen immer eine schöne Draufgabe. Es ist das Zeichen des Kunstsinnigen, ja des Kunstinnigen, mithin des Österreichischen durch und durch.

Der Wiener Klang

Was, muss man nun allerdings fragen, was weiß der österreichische Politiker - ohne dessen Meinung in diesem Land kein Meinungsbild vollständig wäre -, was weiß der von alldem? Die Antwort lautet: nichts. Oder auch: gar nichts. Aber ich möchte hier nicht missverstanden werden: Über Österreichs Politiker ist schon so viel Hässliches gesagt worden, wie es meiner Tante Gesine nicht im Albtraum eingefallen wäre. Tante Theres allerdings schon, nur hätte sie es nie zugegeben, höchstens praktiziert, sozusagen. Nein, Österreichs Politiker geben sich alle Mühe und taten das immer schon, man sollte es ihnen nicht absprechen.

Dazu eine kleine Reminiszenz aus längst vergangenen Zeiten. Man stelle sich ein nahezu klandestines Treffen vor, zehn Mann hoch und eine Frau, in einem Halbwegs-Nobellokal gleich hinterm Westbahnhof. Der Dor und der Frohner und der Muliar waren da, alle schon tot, und der Brauer und die Charim und der alte und der neue Bundeskanzler, der dann recht bald auch schon wieder ein alter wurde. Wir saßen da, um dem alten Bundeskanzler dabei zu helfen, dem neuen zu zeigen, was es mit der Kunst so auf sich hat und warum sie immer so ist, wie sie ist, und der neue Bundeskanzler, der ja ein schöner Bundeskanzler war, aber doch nicht so viel vom Schönen wusste, geschweige denn vom Wiener Klang, der bemühte sich eine Weile. Ja, er fand die Kunst leiwand, auch jene auf Papier, nur mit den Künstlern, mit denen hatte er seine Schwierigkeiten, und als er das in dem Satz "Die onanieren doch alle bloß so vor sich hin" zusammenfasste, da hatten auch wir Schwierigkeiten, da half kein Einspruch mehr, keine Ablenkung, nicht einmal der sehr gute Veltliner, es war einfach wieder mal ein ehrliches Bemühen restlos gescheitert. Zum Glück war der nächste Bundeskanzler dann ein Cellospieler, wenn man dem zuhörte, wusste man wieder, was der Wiener Klang ist.

Der Bundeskanzler, der vor dreißig Jahren im Amt war, hat mir geholfen, Österreicher zu werden, sozusagen vor der Zeit, und dafür war ich ihm sehr dankbar: keine Arbeitsbewilligung mehr und keine Aufenthaltsgenehmigung und keine drohende Abschiebung für meine Familie, falls mir mal etwas zustoßen sollte. Und ziemlich rasch gefiel mir auch dieses entspannte Österreicher-Sein:

Es ging mir ja nur um ein freundliches Zuhause und nicht um eine sogenannte Heimat. Österreich ist schön, aber manchmal ist es noch schöner, dachte ich bisweilen. Und es war auch schön, zu einem Land zu gehören, das keine Großmachtabsichten hatte, eher ein paar hübsche Minderwertigkeitskomplexe. Die waren allerdings damals schon dabei zu verblassen. Man sprach wieder zunehmend Dialekt und entwickelte jene heute weit verbreitete Art, innerhalb eines Satzes von Dialekt zu Hochsprache und wieder zurück zu wechseln, je nachdem, ob ein Satzteil mehr sachbetont ist oder menscheln soll.

Da ich aber zum Glück rasch begriffen hatte, dass kaum etwas blöder klingt als ein Deutscher, der österreichisch zu reden versucht - nur der umgekehrte Fall ist noch blöder -, entpuppte ich mich damit jedes Mal, damals wie heute, als Angehöriger der unbeliebtesten Ausländergruppe in Österreich. Respektiert, teilweise, aber unbeliebt. Ein französischer Akzent, ein italienischer, selbst ein russischer, von einem dänischen und finnischen ganz zu schweigen, aber ein deutscher? Nee. Tante Gesine hat, was das angeht, sozusagen Glück gehabt: Alles Deutsche erfreute sich ‚damals‘ kurzfristig einer seltsamen Beliebtheit. (Ich hoffe, niemand erwartet jetzt, dass ich etwas über das Hochdeutsch des Führers sage.)

Österreichischer Bürger

So bin ich jetzt also ein österreichischer Bürger deutscher Nation und versuche weiterhin herauszufinden, was das Österreichische am Österreichischen ist, zumal in der Kunst. Ich werde es vermutlich nie ganz begreifen, und vielleicht ist das schon ein Teil der Antwort. Thomas Bernhard zum Beispiel: Er hatte eine Menge gegen Österreich vorzubringen und tat es nicht zimperlich. Aber das war nichts gegen den Hass, den er dafür erntete. Und wie war das, kaum dass er tot war und gerade noch dafür gesorgt hatte, dass kommende Generationen von Österreichern ihn nicht mehr lesen und sich nicht mehr über ihn ärgern mussten? Man kippte sein Testament, entdeckte, wie wahnsinnig komisch er war, zog ihm damit alle Zähne und konnte ihn seither vorbehaltlos verehren. Vielleicht ist es unfair, aber mir kommt dieses Verfahren ziemlich österreichisch vor.

Tante Gesine ist nicht mehr und Tante Theres auch nicht. Beide haben ein kaum bemerktes Ende gefunden, beide friedlich, beide im hohen Alter. Hinterlassen haben beide nichts. Trotzdem komme ich mir manchmal vor wie ihr Erbe. (ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 24./25./26.10.2009)