Marc Girardellis Kapital sind die Kontakte, nicht die Erfolge.

Standard: Was bedeutet für Sie der Begriff Heimat?

Girardelli: Heimat ist für mich dort, wo ich mich am wohlsten fühle. Und das ist dort, wo meine Familie ist, wo meine Freunde sind.

Standard: Wo ist das?

Girardelli: Das ist dort, wo ich aufgewachsen bin, die österreichisch-schweizerische Grenzregion, das Rheintal. Da gibt es vom Landschaftlichen her ideale Bedingungen für mich, es sind Berge da, es ist Schnee da, es hat einen See, es sind Flughäfen in der Nähe. Und es ist wirtschaftlich und rechtlich eine sehr sichere Gegend.

Standard: Wie viel Zeit des Jahres verbringen Sie dort?

Girardelli: Schon die meiste Zeit. Ich bin mit meiner Familie gerade am Umziehen, von Deutschland in die Schweiz, weil wir in der Schweiz ein neues Haus bauen, in Rebstein.

Standard: Also nicht in Österreich.

Girardelli: Ich sehe diese Gegend als Großraum. Ich habe meinen Wohnsitz ja schon seit fast 25 Jahren in der Schweiz, in Oberegg. Jetzt ziehen wir halt in ein anderes kleines Dorf, zehn Minuten von meinem Geburtsort Lustenau entfernt.

Standard: Wie definieren Sie den Begriff Nationalität?

Girardelli: Ein zweischneidiger Begriff. Ich war von vornherein nie nationalistisch eingestellt. Ich bin zwar von Geburt an Österreicher, aber ich fühle mich sicherlich nicht so mit dem Land verbunden, wie es vielleicht viele andere Menschen in Österreich tun, wie es vielleicht viele Schweizer mit der Schweiz tun oder Deutsche mit Deutschland. Auch deshalb, weil ich schon im Kindesalter für Luxemburg Rennen gefahren bin. Ich war international tätig, ich habe viele internationale Menschen kennengelernt in meiner Karriere, was unheimlich toll ist. Mit vielen hab ich jetzt noch Kontakt in der ganzen Welt. Und das ist das Kapital, das ich aus meiner Karriere mitnehmen konnte. Weniger das Geld oder die Erfolge, das alles ist vergänglich.

Standard: Luxemburger im engeren Sinn waren Sie nie. Oder haben Sie auch dort gelebt?

Girardelli: Ich hatte schon Wohnsitz dort, von meinem 14. Lebensjahr an, bis ich 22 Jahre alt war, dann hab ich den Luxemburger Pass gekriegt. Ich war zeitweise in Luxemburg in der Übergangszeit zum Trainieren. Ist ja ein schönes Land, aber nicht unbedingt für einen Skifahrer. Das ist grad so, wie wenn ein Fußballer nach Lhasa fliegt. Das ist ideal für Bergsteiger und nicht für Fußballspieler. Bei mir war Luxemburg eine Zwecklösung, damit ich meine Karriere weiterführen konnte. Es hat wirklich gekriselt am Anfang, als ich noch für Vorarlberg gefahren bin.

Standard: War das Ihre Entscheidung?

Girardelli: Es war die Entscheidung meiner Eltern, und es war zufällig Luxemburg, weil in diesem Jahr hatten wir irgendein internationales Rennen in St. Moritz, und dort haben wir Luxemburger Vertreter kennengelernt, auch den Präsidenten von diesem Verband, und dann war es naheliegend, dass meine Eltern jenen Verband kontaktieren, von dem sie die Leute kennen. Es hätte aber genauso gut Belgien oder Andorra oder England sein können.

Standard: Verfolgen Sie das politische Leben in Österreich?

Girardelli: Schon ein bisschen. Ich war jetzt ziemlich viel in Deutschland wegen meiner Familie, und deshalb bin ich über deutsche Verhältnisse besser informiert als über österreichische. Jetzt ist der Opel-Deal klar die Titelseite gewesen über Wochen und Monate, weil es um viele Arbeitsplätze geht, aber was in Österreich passiert, vor allem seit der Jörg Haider nicht mehr da ist, darüber wird nicht mehr sehr viel gebracht.

Standard: Wissen Sie Bescheid über die jeweiligen Nationalfeiertage in den Ländern, in denen Sie daheim sind?

Girardelli: In Österreich kommt er gleich einmal am Wochenende, und in Sölden machen sie gleich einmal ein Verlängerungsprogramm deswegen. Ich finde das okay, es ist ja auch ein wichtiger Tag für Österreich, es war sicherlich nicht einfach, die paar Jahre unter russischer Besetzung vor allem im Osten Österreichs nach dem Krieg zu verbringen. Der Tag ist genauso wichtig wie der Tag der Einheit, der 3. Oktober für die Deutschen. So hat jedes Land seine wichtigen Tage, wenn sie aber zu viel werden, drückt das aufs Bruttosozialprodukt. Man muss aufpassen, wenn man zu viel feiert.

Standard: Sind Sie noch ein bisschen böse auf den ÖSV wegen der damaligen Geschichte, dass er Sie zu wenig gefördert hat?

Girardelli: Das ist ja schon Jahrzehnte her. Ich hatte nie ein Problem. Es kann aber sein, dass der ÖSV mit mir ein Problem hat. Ich hab jetzt genauso wie früher sehr gute Bekannte, die im ÖSV immer noch tätig sind, und ich komm super mit den Leuten aus. Genauso gut und genauso schlecht wie mit den Schweizern, den Italienern, den Deutschen.

Standard: Sie haben während der Karriere und zu einem Zeitpunkt, nachdem Sie noch viel gewinnen sollten, wegen Kniebeschwerden als Sportkrüppel gegolten. Zu Recht?

Girardelli: Laut Versicherung bin ich ein Krüppel, seit ich 19 bin. Ich bin 15 Prozent handikapiert. Ich hatte wirklich Pech. Weil es haben ein paar Prozent gefehlt, um diese Plakette zu kriegen, mit der ich bevorzugt parkieren kann. Vielleicht hätte ich mit der Versicherung noch über die Bücher gehen sollen, aber das habe ich damals noch nicht gewusst. Ich bin aber so gut drauf, dass ich von jedem Parkplatz auch zu Fuß jedes beliebige Ziel erreichen kann. Also von daher wäre es der reinste Luxus gewesen.

Standard: Im Moment ist Österreich quasi ein bisserl in Trauer, weil Hermann Maier zurückgetreten ist.

Girardelli: Ich auch.

Standard: Sie sind in Österreich, weil Sie international waren, vielleicht geschätzt, aber nie in diesem Maß geliebt worden. Das kann man wohl so sagen.

Girardelli: Ja, und das ist schade. Man sieht in Österreich in den Zielräumen die Fanklubs, die Plakate, die Transparente, die Gruppen, die anreisen, genau wie bei Fußballspielen. So was hatte ich leider nie. Und das bedauere ich wirklich. Ich hab oft erlebt, wie meine Konkurrenten und Freunde mit ihren Fanklubs Sachen unternommen haben. Das sind Menschen, die an deinem Leben teilnehmen, es entwickeln sich auch über die Karriere hinaus Freundschaften. Das ist mir leider offiziell nie passiert, aber ich denke, dass ich sehr viele Sympathisanten und Fans im Hintergrund habe, die sich nicht so zu erkennen gegeben haben. Und zwar über die Grenzen hinaus. Weltweit gesehen habe ich vielleicht gar nicht weniger Fans als andere in meiner Leistungsklasse.

Standard: Nicht ein einziger Fan trat aus dem Hintergrund?

Girardelli: Das absolut größte und einzige Transparent, das ich von mir je gesehen habe, war einmal in Wengen Mitte der 80er-Jahre. Da waren zwei Mädchen aus meinem Heimatort in Oberegg, wo ich dann jahrelang gewohnt habe. Das Transparent war so groß wie eine Serviette, da haben sie meinen Namen draufgeschrieben, und zufällig standen sie gleich neben dem Absperrzaun im Ziel, sonst hätte ich es gar nicht gesehen. Glücklicherweise habe ich den Slalom gewonnen. Dieses Erlebnis war so einschneidend, dass es mir bis heute in Erinnerung geblieben ist.

Standard: Welche Geschäfte machen Sie derzeit?

Girardelli: Die Skihalle, die ich vor neun Jahren in Deutschland gebaut habe, habe ich 2004 an einen Holländer verkauft. Ich mache Skibekleidung unter meinem Label, Marc Girardelli Ski Wear. Österreich ist das Hauptverkaufsgebiet, dazu kommen noch zwölf andere Länder, von Osteuropa bis Kanada und USA. Dann organisiere ich Skiveranstaltungen. Vergangenes Jahr habe ich mehr als 90 Tage mit Kunden im Schnee organisiert, für Gruppen von zehn bis mehr als 100 Leuten, bei diesen Gelegenheiten halte ich auch Vorträge. (Mit Marc Girardelli sprach Benno Zelsacher - DER STANDARD PRINTAUSGABE 24.10. 2009)