Viel zu vage und nicht tauglich für Aufbruchsstimmung seien die Versprechungen für Steuersenkungen im neuen deutschen Koalitionsvertrag, kritisiert die deutsche Politologin Barbara Mit Riedmüller sprach Birgit Baumann.
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STANDARD: Schwarz-Gelb feiert den "Aufbruch" . Sehen Sie den auch?
Riedmüller:Im Moment nicht. Das sind ja alles nur Festlegungen, dass etwas geschehen soll. Konkrete Steuererleichterungen sind nicht erkennbar. Im Gegenzug werden Beiträge im Sozialsystem steigen, was möglicherweise zu Mehrbelastung für Geringverdiener führt.
STANDARD: Schwarz-Gelb vernachlässigt also die Ärmeren?
Riedmüller:Gar nicht nur sie und auch nicht nur den Niedriglohnsektor. Das trifft den Lastwagenfahrer oder die Verkäuferin. Denn sie profitieren von Steuererleichterungen in Form von Abschreibungen nicht - wenn diese Entlastungen denn überhaupt kommen.
STANDARD:Opposition und Gewerkschaften beklagen bereits den "sozialen Kahlschlag" . Zu Recht?
Riedmüller:Ganz so kann man es nicht sehen. Auch hier sind die Leitlinien sehr vage. Dass in der Pflegeversicherung wie im Rentensystem eine Kapitaldeckung kommen soll, ist ja schon lange geplant. Das hätte die große Koalition wahrscheinlich auch gemacht.
STANDARD: A propos Pensionen. Dieses Kapitel scheint Schwarz-Gelb ja völlig vergessen zu haben.
Riedmüller: Das haben sie gar nicht erst angefasst. Man muss aber sagen, dass es in Deutschland keinen Spielraum mehr gibt - im Gegensatz zu Österreich. Wir haben im OECD-Raum (Organisation für Entwicklung und wirtschaftliche Zusammenarbeit, Anm.) die sechstniedrigste Lohnersatzquote. Weiter runter kann man nicht gehen.
STANDARD: Wie würden Sie das schwarz-gelbe Projekt übertiteln?
Riedmüller: Es bleibt alles beim Alten, es gibt nur weniger davon.
STANDARD: 24 Milliarden an Steuersenkung ist ja nicht wenig - wenn sie tatsächlich so kommt.
Riedmüller:Man griff in die Trickkiste. So hat das Verfassungsgericht vorgegeben, dass Beiträge für die Krankenkasse steuerlich absetzbar sein müssen. Das ist schon eingerechnet, wäre aber ohnehin gekommen. Auch familienbezogene Leistungen (höherer Steuerfreibetrag für Kinder) sind nur für eine kleine Gruppe attraktiv. Die Mittelschicht wird enttäuscht sein von diesen vagen Versprechungen und die untere Mittelschicht auch.
STANDARD: Was wird langfristig überwiegen: die Dankbarkeit derer, die doch Steuererleichterungen ergattern? Oder der Frust über den immensen Schuldenberg?
Riedmüller: Die Neuverschuldung wird Unsicherheit erzeugen. Die Bürgerinnen und Bürger werden sich nämlich fragen: Was kommt dann später auf uns zu? Man kann nicht - wie Union und FDP- jahrelang sagen:Wir müssen sparen, sparen, sparen. Und dann tut man auf einmal so, als sei das alles kein Problem. Das macht Politik unglaubwürdig und trägt dazu bei, dass Vertrauen verlorengeht.
STANDARD:Gibt es etwas, was Sie positiv finden?
Riedmüller:Dass die Frauen im Kabinett gut repräsentiert sind. Aber sonst sind ja keine Überraschungen in der neuen Regierung dabei.
STANDARD: Der neue, erst 36-jährige Gesundheitsminister Philipp Rösler gilt doch als Coup.
Riedmüller:Das sehe ich anders. Es ist schon erstaunlich, dass man die sehr komplizierte Materie der Gesundheitspolitik in die Hand eines jungen und unerfahrenen Politikers gibt. Auf diesem Feld zeichnen sich tiefe Konflikte ab, wenn dann die Kopfpauschale eingeführt wird. Die Gewerkschaften werden dagegen Sturm laufen und ihre Mitglieder mobilisieren. Ich weiß nicht, ob da so ein junger Mann bestehen kann. (DER STANDARD, Printausgabe, 27.10.2009)