So funktioniert die Gentherapie: Blutstammzellen werden mittels Aidsvirus mit neuem Gen ausgestattet und rückgeführt.

Illustration: Y. Greenman/Science

Paris - Die Kinder hatten eigentlich keine Chance mehr. Bei zwei französischen Jungen, sieben und siebeneinhalb Jahre alt, wurde Adrenoleukodystrophie (ALD) festgestellt. Die grausame Erbkrankheit, die durch den Hollywood-Film "Lorenzos Öl" einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde, ist genetisch bedingt und zerstört schrittweise das Gehirn.

Ursache von ALD ist eine Mutation auf einem Erbgutträger, dem X-Chromosom, weshalb nur Buben - ab einem Alter von sechs bis acht Jahren - betroffen sind. Die meisten sterben, bevor sie das Erwachsenenalter erreichen. Anfangs haben die Patienten Seh- und Hörstörungen, im Endstadium der ALD eine ausgeprägte Demenz. Sie führt schließlich über den Verlust der lebenswichtigen Körperfunktionen zum Tod.

Die Mutation ist ein Defekt im Gen ABCD1, welches für die Herstellung des Proteins ALD verantwortlich ist. Letzteres besorgt wiederum den Abbau von extrem langen Fettsäure-Kettenmolekülen. Werden diese nicht zerlegt, lagern sie sich ab und behindern die sogenannten Mikroglia-Zellen beim Aufbau von Myelin-Hüllen zum Schutz der Nervenzellen. Ohne Myelin ist aber keine Hirnfunktion möglich.

Heutzutage können viele ALD-defiziente Patienten mittels Transplantation von Zellen mit funktionellen ABCD1-Genen im Knochenmark gerettet werden. Für die beiden jungen Franzosen fanden sich aber keine geeigneten Spender. Dass sie dennoch am Leben und einigermaßen wohlauf sind, ist der Arbeit eines internationalen Forscherteams unter Leitung des Genetikers Patrick Aubourg von der Université Paris Descartes zu verdanken.

HI-Virus zum Gen-Einbau

Das Gelingen des kleinen Wunders basiert auf einem raffinierten medizinischen Trick. Die Wissenschafter nutzten die Fähigkeiten von HIV, dem Aidsvirus, um genetisches Material in menschliche Chromosomen einzubauen. Die normalerweise todbringenden Erreger wurden biochemisch so zerlegt, dass nur noch jene Gene für übrigblieben, die für die Integration von Fremdgenen notwendigen Sequenzen nötig sind.

Diese neugeschaffenen Virenpartikel seien "komplett replikationsinkompetent", wie Christof von Kalle formuliert, Molekularbiologe des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg und Projektbeteiligter, im Gespräch mit dem Standard. In einfacheren Worten: Die HIV konnten sich nicht mehr vermehren.

Die so modifizierten Vektor-Viren wurden von Aubourgs Team mit gesunden ABCD1-Genen ausgestattet und anschließend auf Blutstammzellen angesetzt, die man vorher den kleinen Patienten entnommen hatte. Die Erreger taten prompt ihre Pflicht. Sie infizierten die Stammzellen und bauten die mitgetragenen ABCD1-Gene an verschiedenen Stellen in deren Chromosomen ein. Die Experten injizierten diese "umgerüsteten" Zellen zurück in die Venen ihrer Besitzer und warteten gespannt die weitere Entwicklung ab.

Es geschah das Erhoffte. Die Stammzellen wanderten offenbar in das Knochenmark, und später tauchten im Blut beider Jungen u. a. Lymphozyten auf, die funktionsfähiges ALD-Protein produzierten. Zusätzlich beobachteten die Forscher auf mittels MRT erstellten Aufnahmen der Patientengehirne nach 14 bis 16 Monaten einen Stopp des Myelin-Abbaus und darauffolgend sogar eine Verbesserung der Situation.

Anscheinend haben sich die behandelten Stammzellen vermehrt und als gesunde, ALD-freisetzende Mikroglia-Zellen niedergelassen, berichten Aubourg und Kollegen in der neuen Ausgabe der Fachzeitschrift "Science" (Bd. 326, S. 818). Erstaunlicherweise ist die Effizienz der gentherapeutisch ausgelösten ALD-Produktion zumindest in Blutzellen eher gering. Bei Monozyten beträgt sie auf Dauer nur 15 Prozent.

Vorsichtiger Optimismus

In Bezug auf die Zukunft der beiden heute etwa zehnjährigen französischen Jungen geben sich die Forscher vorsichtig optimistisch. "Unsere Hoffnung ist, dass es ihnen so gehen wird wie Patienten, die mittels einer normalen Knochenmark-Transplantation behandelt werden", sagt Christof von Kalle. Die Kinder würden dann keine zusätzliche Beeinträchtigung erfahren und könnten sich altersgerecht weiter entwickeln. "So, dass sie für ihre eigene Wahrnehmung geheilt sind."

Ganz risikolos ist die neue Gentherapie nicht. Es besteht die Gefahr, dass es auch zu nicht beabsichtigten Genveränderungen kommen könnte. Im schlimmsten Fall könnte beispielsweise eine Leukämie entstehen. (Kurt de Swaaf, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 6. November 2009)