Beeindruckt von der habsburgischen Idee: Timothy Snyder.

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Wilhelm von Habsburg ist ein Name, den man vor allem in den Fußnoten polnischer und ukrainischer Werke über den Ersten Weltkrieg findet. Eingeweihten ist er geläufig. Darüber hinaus schien der Erzherzog selber nicht mehr zu sein als eine Fußnote der europäischen Geschichte.

Aus dieser Dämmerung des Vergessens hat ihn der amerikanische Historiker Timothy David Snyder mit einem wissenschaftlich-literarischen Paukenschlag hervorgeholt. Mit Der König der Ukraine gelang dem Yale-Professor eine Biografie, die zugleich die Verwerfungen Mitteleuropas seit dem Ende der Monarchie erhellt und ansatzweise einen neuen Blick auf die politische Landkarte auslotet.

Es ist ein Buch der Potenziale und der versäumten Gelegenheiten. Wilhelm wurde nie Herrscher eines ukrainischen Reiches (das in der von ihm erträumten Weise auch nie entstand). Auch war er nur in eingeschränkter Weise ein Red Prince (so der Titel im amerikanischen Original) - wegen seiner bestickten ukrainischen Uniformhemden wurde er so genannt, auch wegen seiner politischen Gesinnung, doch die war "links" bloß im Vergleich mit der Idee einer absoluten Monarchie. Die Ambivalenzen im Leben Wilhelms aber lassen erahnen, was aus ihm, was aus halb Europa hätte werden können, wenn nur einige Weichen anders gestellt worden wären.

Snyder beginnt mit dem tragischen Ende des Protagonisten. Nach monatelangen Verhören stirbt Wilhelm 53-jährig am 18. August 1948 in einem sowjetischen Gefängnisspital in Kiew. Ein Jahr zuvor war er in Wien von russischen Soldaten entführt worden; er war beschuldigt worden, gegen die Sowjetunion und für westliche Geheimdienste gearbeitet zu haben.

Der Rest des Buches besteht aus der minutiösen Rekonstruktion, wie ein Leben so enden konnte, das als Idylle im Vielvölkerstaat, als behütete Kindheit an der dalmatinischen Adria begonnen hatte. "Es war einmal eine schöne junge Prinzessin namens Maria Christina" , lautet der allererste Satz, und täuschend märchenhaft lässt der Autor auch die Feiern zu Franz Josephs Regierungsjubiläum 1908 Revue passieren.

Einbruch der Wirklichkeit

Die Wirklichkeit bricht ein in Form der Pläne von Wilhelms Vater, der den Zerfall der Monarchie ahnte und die Bruchstücke in Form von habsburgisch geführten Fürstentümern retten wollte. Polen war sein dynastisches Ziel, der jüngste Sohn Wilhelm aber entdeckte während des Ersten Weltkriegs seine Sympathien für die in Galizien/Ruthenien unterdrückten Ukrainer.

Ab nun bestimmten Kriegswirren, strategische Überlegungen der Kaiserhäuser, die völlig veränderte Nachkriegsordnung und persönliche Präferenzen die weiteren Schritte des Habsburgers. Seine homosexuellen Neigungen lebte er in Paris aus, wo er hinzog, nachdem seine antisowjetischen Pläne nicht mehr von deutschen rechtsnationalen Kreisen unterstützt wurden. Dort geriet er jedoch in ein Netz von sozialen und politischen Verhängnissen, die ihn wieder nach Wien und in einen zweiten, noch weniger aussichtsreichen Kampf um eine unabhängige Ukraine katapultierten.

Snyder hat für das Buch in Archiven in ganz Europa recherchiert. Der aus Dayton, Ohio, gebürtige Historiker hatte in Oxford und Paris studiert und war mehrere Jahre, Sprachen lernend und Kulturen aufsaugend, durch Europa gereist, bevor er eine Professur an der Yale Uni bekam. Zurzeit ist er in Wien, als permanent fellow des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen.

Was ihn bei seinen Forschungen unter anderem fasziniert hat, ist der "monarchische Blick auf die Welt: Die Habsburger hatten einen Sinn für die Ewigkeit, und immerhin haben sie 500 Jahre lang regiert." Ihr Reich sei auch ein "ziemlich menschlicher Platz zum Leben" gewesen, in dem man mehrere Identitäten haben konnte.

Im letzten Kapitel beschäftigt sich Snyder damit, was dieses "ambivalente Vermächtnis" der Dynastie, was der "zwischen Monarchie und Moderne verschwundene" Wilhelm für das heutige Europa bedeuten können. Ob die habsburgische Idee wiederkommen wird, wie der Autor spekuliert, sei dahingestellt. Jedenfalls erweitert er die gedanklichen Räume, in denen Europa imaginiert werden kann, um etliche faszinierende Zimmer.

Vor allem aber sind die Biografie des Wilhelm, die Verwechslungstragikomödien und Geheimdienstrochaden bestes Rohmaterial für einen Autor, der so gut schreibt wie Snyder.

Das Echo war entsprechend enthusiastisch in der angelsächsischen und der bundesdeutschen Presse, von Foreign Affairs und Times bis zur Welt und taz. In Österreich war es eher verhalten. Dabei würde Snyder gerade hier die Reaktion der Intelligenz interessieren: "Österreichs Geschichte wird viel interessanter, wenn man die Dinge wegschält, die einem gemeinhin zu dem Land einfallen." (Michael Freund/DER STANDARD, Printausgabe, 7./8. 11. 2009)