"Wie in der Schweiz Kinder gezeugt werden? Das ist bei uns von Kanton zu Kanton verschieden." Mit diesem Bonmot pflegte die erste Schweizer Bundesrätin, Elisabeth Kopp, Gästen den Schweizer Föderalismus zu erklären. In der Tat ist in der Schweiz vieles von Kanton zu Kanton unterschiedlich geregelt: Bildungs-, Gesundheitswesen, Umweltschutz, Raumplanung, Kulturförderung.

Diese starke Stellung der Kantone - oder "Stände" - hat lange Tradition. Das beginnt der Legende nach 1291: Nachdem Wilhelm Tell mit der Armbrust den Landvogt Gessler getötet hatte, schworen die alten Eidgenossen aus Uri, Schwyz und Unterwalden auf dem Rütli, sie wollten "frei sein, wie die Väter waren ..." Seit 1848 besteht der heutige Bundesstaat, der als "Confoederatio Helvetica" auch im Autokennzeichen CH verewigt ist.

Die Stimmen der Kantone haben im nationalen Parlament ein großes Gewicht: Die eine der zwei Kammern, der Ständerat, setzt sich aus je zwei Vertretern jedes Kantons zusammen; die kleinen Kantone haben somit im Verhältnis zu ihrem Bevölkerungsanteil ein deutliches Übergewicht. Und Verfassungsänderungen können nur in Kraft treten, wenn sie in einer Abstimmung von "Volk und Ständen" genehmigt worden sind, also von einer Mehrheit der Abstimmenden und der Kantone.

Das ablehnende "Ständemehr" hat gelegentlich Neuerungen verhindert, die von einer Bevölkerungsmehrheit gewünscht worden wären, etwa eine erleichterte Einbürgerung für junge Ausländer oder eine Kulturförderung auf Bundesebene. In Bern wird deshalb gern gelästert, auch eine Vorlage über die Abschaffung des Ständemehrs würde am Ständemehr scheitern ...

Die 26 Schweizer Kantone heben selbstständig Steuern ein und liefern einen Teil davon an die Bundeskasse ab - was zu scharfer Steuerkonkurrenz unter den Kantonen geführt hat, die mit Tarifsenkungen locken. Das Nachsehen haben oft Kantone mit großen Zentrumslasten wie Zürich, Bern oder Basel: Sie haben größere Ausgaben für Sozialwesen und Kulturangebot und müssen Steuern hoch halten.

Die föderalistische Vielfalt trägt regionalen Besonderheiten zwar Rechnung, führt aber auch zu Komplikationen und ineffizienten, kleinräumigen Strukturen. Das Gesundheitswesen funktioniert nach dem Motto "Jedem Tälchen sein Spitälchen" . Mehr als 300 Spitäler gibt es in der Schweiz; jeder Politiker, der eines schließen will, riskiert seine Abwahl. Im Schulwesen dauern je nach Kanton Kindergarten, Unterstufe und Oberstufe unterschiedlich lang, werden unterschiedliche Sprachen unterrichtet und unterschiedliche Inhalte gelehrt. Teilweise gar von Gemeinde zu Gemeinde variiert das Datum der Schulferien.

Der Bund ist grundsätzlich nur dort zuständig, wo ihn die Verfassung dazu ermächtigt - etwa in der Außen- und Sicherheitspolitik, beim Zoll- und Geldwesen, in der landesweit gültigen Rechtssetzung und in der Verteidigung. (Klaus Bonanomi aus Bern, DER STANDARD, Printausgabe, 9.11.2009)