Wahrscheinlich fließen heute wieder da und dort Tränen, wenn die bewegenden Bilder vom Fall der Berliner Mauer im Fernsehen zu sehen sind. Andere werden mit sarkastischem Grinsen Witze wie diesen zum Besten geben. Sagt der Ossi zum Wessi: "Wir sind EIN Volk!" Antwortet der Wessi: "Ja, wir auch."

Der Mauerfall war für die Deutschen einer der bewegendsten Momente des 20. Jahrhunderts. An diesem 9. November 1989 waren sie vielleicht wirklich für ein paar Stunden in Gedanken so vereint wie davor und danach nie wieder. Doch all die großen Politiker und kleinen Leute, die sich heute am Brandenburger Tor versammeln und dieser Sternstunde gedenken, wissen: Die historischen Glücksmomente sind längst verloschen, die Mühen der Ebene aber noch lange nicht bewältigt.

Gleichheit, Gleichberechtigung und Partnerschaft auf Augenhöhe - all diese Wünsche und Schlagworte des Herbstes 1989 hat Deutschland in einem Punkt erreicht: In der internationalen Gemeinschaft agiert Berlin, als hätte es die DDR nie gegeben. "Ich liebe Deutschland so sehr, dass ich gerne zwei davon hätte" - das war lange Zeit die gängige Meinung unter europäischen Politikern wie Margaret Thatcher oder François Mitterrand. Europa fürchtete zunächst mit Blick auf die Geschichte vor 1945 ein wiedererstarktes Deutschland. Doch diese Ängste haben sich nicht erfüllt. Deutschland fügt sich ein (Afghanistan), versucht auch einmal voranzumarschieren (Klimaschutz), aber es übt nicht mehr jene Dominanz des Schreckens aus.

Weniger gelungen jedoch ist die innenpolitische Bilanz. "Blühende Landschaften" hat der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) den Ostdeutschen versprochen. Da und dort gibt es tatsächlich ein paar sehr ansprechende und herausragende "Blumenbeete" : Dresden und die Region darumherum boomen, auch der Tourismus an der Ostseeküste floriert. Doch dazwischen ist viel öde Wildnis, jede Menge Brachland mit hoher Arbeitslosigkeit, keinen Zukunftsperspektiven und einer stetig wachsenden Zahl von NPD-Wählern.

Das frustriert Ost- wie Westdeutsche gleichermaßen. Die ehemaligen DDR-Bürger fühlen sich um ihr neues Leben betrogen. Stacheldraht, Stasi, Überwachung und leere Regale in der Kaufhalle haben die meisten gerne hinter sich gelassen. Aber die soziale Sicherheit fehlt ihnen. Von der "Wiege bis zur Bahre" war ihr Leben organisiert. Alle hatten gleich wenig. Viele haben den Sprung in die westdeutsche Marktwirtschaft und den Sozialstaat bundesrepublikanischer Prägung nicht geschafft. Da wie dort nämlich herrscht Wettbewerb, und umsonst gibt es kaum etwas.

Ungeduldig sind auch die Westdeutschen, die eines einfach nicht nachvollziehen können: dass es nicht so einfach ist, von einem Tag auf den anderen ein neues System - Schule, Job, Justiz - übergestülpt zu bekommen. Nicht wenige sehen den Ostdeutschen als ewig jammernden Nimmersatt. Die unfassbare Summe von 1300 Milliarden Euro ist an Aufbauhilfe von West nach Ost geflossen. Und immer noch ist die Arbeitslosigkeit im Osten höher, die Produktivität niedriger und sind mehr Menschen auf staatliche Unterstützung angewiesen. Dabei gibt es längst Regionen im Westen (Ruhrgebiet), die das Geld genauso dringend bräuchten.

Denn die Westdeutschen erlebten seit 1989 ebenfalls eine gravierende Veränderung: die Globalisierung. Diese hat auch viele West-Biografien durcheinandergewirbelt. Sehr viel mehr Geld wird es auf beiden Seiten der ehemaligen Mauer in den kommenden Jahren nicht geben. Am gegenseitigen Verständnis zu arbeiten hingegen würde nichts kosten. Dann kann es in 20 Jahren vielleicht wirklich heißen: Ja, wir Deutschen sind alle ein Volk. (Birgit Baumann/DER STANDARD, Printausgabe, 9.11.2009)