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Ostdeutsche Grenzwachen blicken durch eine Lücke in der Grenzmauer, nachdem Demonstranten ein Stück Mauer entfernt haben.

Foto: Reuters/Bensch

Grau ist sie, hässlich, beschmiert und natürlich unüberwindbar, auch wenn der Putz schon bröckelt und Eisenstäbe herausragen. "Das soll die berühmte Berliner Mauer sein? Ich habe sie mir viel monströser vorgestellt" , sagen Touristen heute noch, wenn sie in Berlins Mitte ihren Pflichtstopp in der Niederkirchner Straße machen. Dort steht noch ein Stück Mauer. Im Osten der Stadt erstrahlt hingegen die East-Side-Gallery zum Jahrestag in neuem, bunten Glanz. Künstler aus aller Welt haben sich auf 1200 Metern Mauer verewigt. Fröhlich schaut das aus, und hier kann man noch weniger als in der Niederkirchner Straße erahnen, welchen Schrecken die Berliner Mauer 28 Jahre lang ausübte.

"Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten" , hatte DDR-Staatsratsvorsitzender Walter Ulbricht am 15. Juni 1961 auf einer Pressekonferenz erklärt. Zwei Monate später, am 13. August 1961, begannen die Bauarbeiten. Zuerst war es wirklich "nur" eine Mauer, die die Bürger der DDR daran hindern sollte, via Berlin in den Westen zu gelangen. Denn die DDR drohte zu dieser Zeit auszudörren. 3,5 Millionen Menschen hatten der von Sowjets besetzten Zone seit 1945 für immer den Rücken gekehrt. Später dann wurde aus der Mauer ein bis zu 4,2 Meter hoher, aus Sicht der DDR-Führung ein perfekter Grenzwall - mit Schussanlagen, Wachposten, Hundeauslaufzonen und Bunkern. Ein 167 Kilometer langes Bauwerk, das ein ganzes Volk einsperrte.

"Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf", erklärte der greise Staatsratsvorsitzende Erich Honecker noch im Herbst 1989 trotzig. Doch dies war einer der schönsten Irrtümer der Geschichte. Da war der Zerfall schon nicht mehr zu stoppen.

Österreichs Grenze

Begonnen hatte er bereits viel früher, im Mai 1989, als der Eiserne Vorhang an der österreichisch-ungarischen Grenze durchlässig wurde, weil die beiden Staaten anfingen, die Grenzanlagen abzubauen. Notiz nahm man in der DDR davon natürlich, aber die Führung war gerade mit anderem beschäftigt, der Fälschung der Kommunalwahlen. Später, als die DDR schon nicht mehr existierte, blieb den Linientreuen nur ein schwacher Trost: Auch im Westen ahnte damals kaum jemand, dass der Mauerfall und der Untergang der DDR damals so schnell kommen würden - wenngleich heute viele erklären, sie hätten es ja immer schon vorausgesagt.

Im September spitzte sich die Situation dann zu. Immer mehr Ostdeutsche wollten in den Westen und flüchteten in die Prager Botschaft. Die, die in der DDR blieben, waren nicht mehr bereit zu schweigen und jahrzehntelange Repressalien hinzunehmen. Von Leipzig ausgehend erfassten "Montagsdemonstrationen" das ganze Land. Unvergessen bleiben zwei Tage: Der 30. September, an dem der damalige deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) tausenden Flüchtlingen in der Prager Botschaft erklärte, sie könnten in den Westen ausreisen. Und der 9. Oktober, an dem in Leipzig nach dem montäglichen Friedensgebet in der Nikolaikirche 70.000 Menschen auf die Straße gingen. Schon damals ein kleines Wunder: Es fiel kein Schuss, alles blieb friedlich.

Dies wiederholte sich dann einen Monat später, allerdings in viel größerer Dimension. Der 9. November 1989 war zunächst Business as usual. In Bonn machte sich der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) auf den Weg zum Staatsbesuch nach Warschau. Unruhig zwar wegen der vielen Demonstrationen in der DDR, aber keinesfalls so nervös, dass er die lange geplante Reise absagen wollte.

In Ostberlin war für den Abend wieder mal eine Pressekonferenz des Politbüros angekündigt. Das neue Reisegesetz sollte erklärt werden. Es war langweilig wie immer, bis Politbüro-Mitglied Günther Schabowski um 18.53 Uhr sagte, jeder könne jetzt ohne Angabe von Gründen in den Westen reisen. Ab wann das gelte, will der italienische Journalist Ricardo Ehrmann wissen. "Das tritt nach meiner Kenntnis ... ist das sofort ... unverzüglich, stammelt der sichtlich überraschte Schabowski und kramt in seinen Zetteln. Noch heute ist unklar, ob sich Schwabowski tatsächlich irrte oder ein wenig nachhalf. Die Grenzer nämlich sollten die Schlagbäume erst am 10. November hochgehen lassen.

Doch viele Ostberliner hatten den entscheidenden Satz verstanden. An der Bornholmer Brücke wuchs die Schar derer, die in den Westteil der Stadt wollten, minütlich. "Tor auf, Tor auf" , riefen sie den ratlosen Grenzern zu, die keine Order von oben hatten.

Gegen 23 Uhr war der Druck so groß, dass Chef-Grenzer Harald Jäger den beherzten Entschluss fasste, den Schlagbaum hochzuziehen, anstatt die Neugierigen gewaltsam zurückzuhalten. Auch da fiel kein Schuss. Das Einzige, was knallte, waren die Sektkorken.

Die Nacht vom 9. auf den 10. November war West-Berlin dann eine einzige Party. Wildfremde küssten und umarmten sich. Und vor allem ein Wort war es, das immer wieder ertönte: "Wahnsinn!" Wie es weitergehen sollte, daran dachten die wenigsten. In dieser Nacht zählte nur der Augenblick. (Birgit Baumann aus Berlin/DER STANDARD, Printausgabe, 9.11.2009)