Die Staatsanwaltschaft von Sofia macht Ernst. Nachdem sie gefordert hatte, die Abgeordneten-Immunität des früheren Ministerpräsidenten Sergej Stanischev aufzuheben, peilt sie nun auch jene von dessen engvertrautem Ex-Geheimdienstchef Petko Sertov an. Laut Staatsanwalt Nikolaj Kokinov liegen ausreichend Beweise vor, um gegen den Sozialistenchef und den früheren Direktor der staatlichen Sicherheitsagentur DANS wegen Fahrlässigkeit im Umgang mit Geheimdienstunterlagen zu ermitteln. So hochrangige Angeklagte kennt die jüngere bulgarische Justizgeschichte nicht.
Regierungschef Borissov beschuldigte seinen Vorgänger, einen äußerst pikanten Geheimbericht der DANS im Oktober 2008 verschwinden haben zu lassen, nachdem dieser dem damaligen Premier zugestellt worden sei. Vor wenigen Tagen tauchte der 30 Seiten umfassende Bericht plötzlich im Internet auf. Der Report beschreibt die Korruptionsschemata von Stanischevs Kabinettsmitgliedern. Davon scheint die Staatsanwaltschaft ebenfalls überzeugt zu sein. Und sie geht noch ein Stück weiter - im Laufe der Ermittlungen gesellten sich zum fraglichen Geheimbericht sieben weitere, die auf dem Weg vom Geheimdienst zur Regierung angeblich mysteriös verschwunden sind. Deshalb ermittelt die Staatsanwaltschaft auch gegen den früheren DANS-Chef Sertov, der seine neue Stelle als Konsul im griechischen Thessaloniki nun nicht antreten kann. Es handelt sich um Berichte über das organisierte Verbrechen, den Grenzschmuggel und die Geschäftsabschlüsse zum Öl-für-Lebensmittel-Programm der UNO im Irak. "Diese Information gelangte absichtlich in die falschen Hände, um die Beteiligten rechtzeitig zu warnen" , ist Borissov überzeugt.
Insgesamt hatte die EU im Sommer 2008 mehr als 500 Millionen Euro vorläufig gestrichen, weil Sofia unzureichend gegen Korruption und organisierte Kriminalität vorgegangen war. Borrisov schließt auch eine Anklage gegen seinen Vorgänger wegen der missbräuchlichen Verwendung von EU-Fonds nicht aus. Die Staatsanwaltschaft ermittle bereits gegen etwa 50 Beamte.
Die Agentur DANS gibt es erst seit Jänner 2008. Stanischev schuf das "bulgarische FBI" damals als eine Reaktion auf die Skandale im Innenministerium. Heute spricht Borissov vom "zerstörten Vertrauen" zwischen dem bulgarischen Geheimdienst und den Partnerländern in der EU und Nato. "Ich muss mir immer wieder Fragen aus Brüssel gefallen lassen, ob Bulgarien noch ein vertrauenswürdiger Partner im Umgang mit klassifizierter Information ist" , klagt der Regierungschef.
Die Staatsanwaltschaft ermittelt nun auch gegen die frühere Arbeits- und Sozialministerin Emilia Maslarova wegen Amtsmissbrauchs und Veruntreuung von Staatsgeldern. (Vessela Vladkova aus Sofia/DER STANDARD, Printausgabe, 9.11.2009)