Er stammte aus Lemberg und liebte Wien über alles. Stanislaw Jerzy Lec bezeichnete sich gerne als "letzten Untertan von Kaiser Franz Joseph". Seit kurzem liegt eine erste Biografie des begnadeten Aphoristikers vor. 

***

Wien/Warschau - Die Kapellen in den Warschauer Cafés spielten einen Wiener Walzer zur Begrüßung, wenn Stanislaw Jerzy Lec zur Tür hereinkam. Freunden kam es so vor, als baue er die Wiener Kaffeehausatmosphäre wie eine unsichtbare Dekoration überall dort auf, wo er sich mit seinem grünen Notizbuch niederließ. Und dies mitten im kommunistischen Polen.

Ohne die in Krakau geborene und in München lebende Kulturmittlerin Marta Kijowska wüssten wir all dies nicht. Sie nahm den 100. Geburtstag des großen Aphoristikers zum Anlass, seinen Spuren nachzugehen und eine erste Lec-Biografie vorzulegen: Die Tinte ist ein Zündstoff. Stanislaw Jerzy Lec - der Meister des unfrisierten Denkens (Carl-Hanser-Verlag, 18,40 Euro)

Flucht in SS-Uniform

Über die Kriegszeit sprach Lec nur ungern. Der 1909 im galizisch-österreichischen Lemberg geborene Sohn einer großbürgerlich-jüdischen Familie hatte das Ghetto überlebt, das Lager in Tarnopol, die Partisanenkämpfe in den Wäldern und die Judenfänger im nazibesetzten Warschau. Zugute kamen ihm seine hervorragenden Deutschkenntnisse, sein tollkühner Mut - einmal floh er in SS-Uniform - und seine Freunde unter den linken Intellektuellen der Zwischenkriegszeit. Sie verschafften ihm 1943 nicht nur konspirative Unterkünfte in Warschau, sondern auch Arbeit bei einer Soldatenzeitung und schließlich einer Propagandaeinheit der kommunistischen Volksgarde. Hier lernte Lec auch den jungen Marceli Reich kennen, der später als Marcel Reich-Ranicki zum deutschen "Literaturpapst" aufsteigen sollte.

Geradezu ins Schwärmen geriet Lec allerdings, wenn die Sprache auf seine Kindheit in Lemberg und Wien kam. Sein Vater, Baron Benno de Tusch-Letz (der Name wurde später polonisiert), war Bankier und Großgrundbesitzer. Die Familie besaß Wohnungen in Lemberg und in Wien, wo seine Vorfahren in den Adelsstand erhoben worden waren. Mutter Adele stammte aus einer sephardischen Familie. Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, drängte sie auf eine Verlegung des Wohnsitzes nach Wien. Dort besuchte der Sohn die Volksschule. Zurück in Lemberg, legte Lec die Matura im deutschsprachigen Karmeling-Gymnasium ab.

Obwohl sich Lec stets als Pole fühlte, blieb er zeitlebens dem Habsburgerreich und dessen vorletztem Monarchen in ironischer Zuneigung verbunden. Politisch engagierte er sich allerdings schon als Jura-Student aufseiten der Linken. Mit doppeldeutigen Sentenzen wie "Ich bin nicht der Meinung, dass jemand, der eine Seele besitzt, eo ipso schon zur besitzenden Klasse gehört", spottete Lec aber auch über die festgefügten Parolen des Klassenkampfs zwischen Kapitalisten und Proletariern. Nach Abschluss des Studiums zog Lec Mitte der 1930er nach Warschau um, reüssierte dort schnell als scharfzüngiger Satiriker.

Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs suchte Lec Zuflucht vor den Deutschen im heimatlichen Lemberg, das im Hitler-Stalin-Pakt den Russen zugeschlagen wurde. Doch ähnlich wie im nazibesetzten Polen drohten auch im sowjetisch besetzten Teil willkürliche Erschießungen und Deportationen. Um zu überleben, schloss sich Lec dem Verband Sowjetischer Schriftsteller der Ukraine an, verfasste Elogen auf die siegreiche Revolution und schrieb regimefreundliche Texte für die Zeitung Czerwony Sztandar (Rote Fahne). Diese Texte wie auch seine Hymne auf Josef Stalin riefen im bereits unabhängigen Polen Kritiker auf den Plan. Sie warfen Lec vor, im Krieg Polen als "Sowjetkollaborateur" verraten zu haben.

Nach dem Krieg begann der Satiriker zunächst eine Diplomatenkarriere. Die neue Macht in Warschau schickte ihn als Presseattaché nach Wien. Doch das Österreich der Jahre 1946 bis 1950 war nicht zu vergleichen mit der Monarchie. Vor die Wahl zwischen Wien und Warschau gestellt, entschied sich Lec zur Emigration nach Israel. Dort hielt es ihn aber nicht lange. 1952 kehrte er zurück ins stalinistische Polen.

Zunächst mit Schreibverbot belegt, übersetzte Lec deutsche und österreichische Autoren (u. a. Heine, Goethe und Brecht sowie Trakl und Grillparzer). Später begann er jene Aphorismen zu verfassen, die ihm Weltruhm bringen sollten. Meist wurden sie als Seitenhiebe auf das kommunistische Regime verstanden: "Sesam öffne dich - ich will hinaus". Oder: "Kopf hoch, sagte der Henker, als er ihm die Schlinge umwarf."

Doch die Unfrisierten Gedanken, die Karl Dedecius kongenial ins Deutsche übersetzte, sind weit mehr als Regimekritik. Lec zielte auf das Paradoxe und Absurde im Menschen ab. Am 7. Mai 1966 starb Lec im Alter von nur 57 Jahren an Magenkrebs. Zuvor hatte er lakonisch festgehalten: "Schade, dass man ins Paradies mit einem Leichenwagen fährt!", aber auch: "Wenn ich ein zweites Mal geboren werde, lass ich mich gleich unter einem falschen Namen eintragen." Sein Lebenswerk würdigte er selbst einmal mit der liebevoll-spöttischen Anekdote: ",Schreiben Sie auch größere Sachen', fragte mich eine Dame. ,Nein, nur große', war meine Antwort." (Gabriele Lesser, DER STANDARD, Printausgabe, 10.11.2009)