Jörg Kürschner  zeigt Fotos aus seiner Stasi-Akte, in die er nach der Wende Einblick erhielt.

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Einer jener Barkas, die von der DDR-Staatssicherheit für Gefangenentransporte und Verhaftungen genutzt wurden.

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Das ehemalige Stasi-Untersuchungsgefängnis in Berlin-Hohenschönhausen.

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Einer der dutzenden Verhörräume.

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"Wenn der Bus ins Schleudern gekommen wäre - es lag damals viel Schnee - hätte ich wahrscheinlich alt ausgesehen", erinnert sich Jörg Kürschner an jene Fahrt im Dezember 1979, die sein Leben für immer verändern sollte. Eingezwängt in eine Ein-Mann-Zelle und mit Handschellen gesichert saß der damals 28-Jährige Hannoveraner in seinem rollenden Gefängnis, einem als Gemüse-Lkw getarnten Kleinbus Marke Barkas, den die DDR-Staatssicherheit zum Transport von Gefangenen benutzte. Dass seine Fahrt quer durch die DDR erst Stunden später am Tor des Ostberliner Stasi-Gefängnisses enden sollte, konnte Jörg Kürschner nur ahnen. Und dass er erst zwei Jahre später wieder freikommen würde, ebenso.

Heute, zwanzig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer, erinnert sich Radiojournalist Jörg Kürschner im Gespräch mit derStandard.at in seinem Büro im Berliner Bundespressezentrum an seine Erlebnisse im berüchtigten Stasi-Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen.

Spiegel im Hohlraum

„Ich habe auf einer Polenreise Anfang der Siebzigerjahre einen Ostdeutschen kennengelernt, mit dem ich mich anfreundete und den ich ein, zwei Mal im Jahr in Jena besuchte", erzählt Kürschner, dessen Vater selbst nach dem Krieg aus Dresden in den Westen Deutschlands übersiedelte. Und jedes Mal brachte er seinem Freund Gastgeschenke in Form verbotener Literatur, etwa von Robert Havemann oder Rudolf Bahro, oder Ausschnitte aus West-Zeitschriften wie Spiegel oder Welt mit. Jedes Mal so viel, wie in den Hohlraum in der Kopfstütze seines VW-Käfers passte.

Ein Dutzend Mal ging das gut. Bis zu jedem 29. Dezember 1979, als Jörg Kürschner auf dem Weg zu einer Silvesterfeier in Jena von den DDR-Grenzern genauer als sonst gefilzt wurde. „Im Nachhinein betrachtet war ich schon sehr naiv", schildert Kürschner sein aus Sicht der DDR-Behörden subversives Treiben. Kürschner, damals gerade mit seinem Jus-Studium fertig und mit einer Jobzusage bei der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung in der Tasche, wurde am Grenzübergang Herleshausen nahe der thüringischen Stadt Wartha verhaftet. „Ich dachte, jetzt schieben sie mich ab und ich darf nie wieder in die DDR einreisen." Stattdessen verurteilte ihn das DDR-Bezirksgericht in Gera zu fünf Jahren und acht Monaten Haft. 

Am Weg in die Verbannung

Das Stasi-Gefängnis in Berlin-Hohenschönhausen, wo heutzutage Schülergruppen von ehemaligen Häftlingen Anschauungsunterricht erhalten, ist ein schmuckloser Bau am östlichen Rand der deutschen Hauptstadt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in dem ehemaligen Küchentrakt der NS-Volkswohlfahrt ein Internierungslager des sowjetischen Geheimdienstes NKWD eingerichtet, das teils als Transitgefängnis auf dem Weg in die sibirische Verbannung genutzt wurde. Im diesem alten Teil der heutigen Gedenkstätte sind noch die Zellen zu besichtigen, in denen die Sowjets politische Gefangene inhaftierten und bis zum Verbot 1953 auch folterten.

Jörg Kürschner fand sich im neuen Teil des Gefängnisses wieder, der 1961 errichtet wurde und dem DDR-Ministerium für Staatssicherheit (MfS) als zentrales Untersuchungsgefängnis diente. „Zunächst ging es in der Vernehmung nur um die geschmuggelten Bücher. Nachdem mein Freund in Jena auch verhaftet worden war, drehten sich die Fragen der Stasi schnell um meine politische Meinung, mein soziales Umfeld in Westdeutschland und um meine sonstigen Kontakte in der DDR." Erst Anfang der Neunzigerjahre erfuhr Kürschner, dass die Stasi genauer nachgeforscht hatte. „Die wussten sehr viel über mich, teils auch Falsches, aber vor allem, dass ich während des Studiums bei einem FDP-Abgeordneten in Bonn gearbeitet habe." 

"Ein scharfer Hund"

Die ersten zwei Wochen saß Kürschner in Einzelhaft, eine Methode, die von der Stasi gerne angewandt wurde, um politische Häftlinge zum Sprechen zu bringen. „Mein Vernehmer war ein so genannter scharfer Hund, ziemlich jung, er wurde auf der Stasi-Hochschule in Potsdam ausgebildet und war extrem gut vorbereitet. Der kannte alle aktuellen Westzeitungen und wusste genau über die politische Lage im Westen Bescheid. Das Perfide war, dass er mir immer vor Augen gehalten hat, dass man mich laut Strafgesetzbuch eigentlich auch ohne Urteil in den Westen abschieben könnte. Erst mein Rechtsanwalt hat mir die Augen geöffnet, dass die Frist dafür längst abgelaufen war. Da ist eine Welt für mich zusammengebrochen."

Jörg Kürschner hat das Schicksal seines Vernehmers auch nach seiner Freilassung beobachtet. „Er hatte selber auch kein leichtes Leben, seine Frau hat ihn verlassen, er wurde zum Säufer und hat bei der Stasi um Entlassung angesucht. Das wurde ihm auch gewährt. Später hat er hat sich Widerstandsgruppen angeschlossen und saß dann selber in Hohenschönhausen. Vor einigen Jahren ist er dann gestorben, wahrscheinlich am Suff. Im Grunde ist er selbst an dem System zerbrochen."

"Das Allerhärteste"

Im Juni 1980 wurde Kürschner ins Bezirksgericht nach Gera im heutigen deutschen Bundesland Thüringen überstellt, wo ihm der Prozess gemacht wurde. „Die Farce war, dass man nach DDR-Recht bei Stasi-Angelegenheiten mit seinem Rechtsanwalt nicht über den Fall sprechen durfte, bis das Ermittlungsverfahren abgeschlossen war." Seine Strafe, fünf Jahre und acht Monate wegen „staatsfeindlicher Hetze", trat er im Gefängnis Rummelsburg im Ostberliner Stadtteil Lichtenberg an - in einer Neun-Mann-Zelle. Kürschner war froh, dass er dem berüchtigten Stasi-Gefängnis entkommen war: „Im Nachhinein war die Haft natürlich die schlimmste Zeit in meinem Leben, aber Hohenschönhausen war das Allerhärteste."

Während der zwei Jahre seiner DDR-Haft bekam Jörg Kürschner einmal Besuch von seiner Mutter. Ein Abkommen zwischen den beiden deutschen Staaten sah eine gegenseitige Informationspflicht in Falle von Verhaftungen vor. Nach Hohenschönhausen, wo er die ersten Monate verbrachte, "kam aber keiner rein, das war ja Sperrgebiet." Weitere Besuche wollte er seinen Eltern nicht zumuten, „es war wie am Fahrkartenschalter, man saß hinter einer Trennscheibe." 

Freigekauft

Im Dezember 1981 stattete der deutsche Kanzler Helmut Schmidt dem DDR-Machthaber Erich Honecker einen Besuch ab - „und nahm mich mit nach Hause", schildert Kürschner. Bis zum Ende der DDR wurden etwas mehr als 33.000 politische Gefangene gegen Devisen aus ostdeutschen Gefängnissen freigekauft und in den Westen ausgebürgert. So auch Jörg Kürschner. „Es gab Listen, auf denen man gereiht wurde, etwa anhand von Vorstrafen oder anderer politischer Gründe. Da stand ich anscheinend relativ weit oben." Ein paar Tage vor seiner Entlassung wurde früh morgens Kürschners Zellentür geöffnet: „Jeder in der Zelle wusste, dass einer von uns nach Hause darf, nur wusste niemand, wer das sein würde. Auch eine Art von Psychofolter."

Das letzte Kapitel von Jörg Kürschners Odyssee durch den DDR-Strafvollzug begann abermals in einem Barkas, dem Stasi-Lkw. „Man wusste nicht, was mit einem geschieht, wann es weitergeht." Zehn Tage verbrachte er in Karl-Marx-Stadt, dem heutigen Chemnitz, in Einzelhaft. In der Dunkelheit der Nacht wurde Kürschner in einen von zwei Bussen verfrachtet, die mit zwei Kennzeichen, sowohl westlicher als auch östlicher Provenienz, ausgestattet waren. Sein Rechtsanwalt, der den Tross im goldfarbenen Mercedes begleitete, gab ihm noch mit, er möge im Westen keinesfalls die Medien informieren, Diskretion im Namen der anderen Gefangenen sei oberstes Gebot.

Am Ort seiner Verhaftung, dem Grenzübergang Herleshausen-Wartha, wurde Kürschner fast genau zwei Jahre danach wortlos dem Roten Kreuz übergeben, das für die Erstaufnahme von DDR-Häftlingen zuständig war. (flon/derStandard.at, 10.11.2009)