Die Entscheidung löst Bedenken aus.

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Paris - Wie weit darf der Versuch zur Wiederbelebung eines Menschen gehen? Diese ungewöhnliche, aber im Spitalsalltag gar nicht so selten auftauchende Frage hatte jetzt ein südfranzösisches Gericht zu entscheiden. Die Eltern eines Neugeborenen warfen einem Krankenhaus in der Provence-Stadt Orange die Rettung ihres neugeborenen Buben vor, der zuvor bereits für tot erklärt worden sei. Das Kind leidet an schweren körperlichen Gebrechen und ist geistig behindert.

Der Vorfall ereignete sich im Dezember 2002. Das Baby kam in Orange zur Welt, ohne ein Lebenszeichen von sich zu geben - wegen eines Herzfehlers, wie sich später herausstellte. Der Gynäkologe startete Wiederbelebungsversuche, brach diese aber nach 25 Minuten ab. Während er die Eltern über das Ableben ihres Neugeborenen informierte, setzten Mitarbeiter der Abteilung die Wiederbelebungsversuche aber fort - und hatten schließlich Erfolg: Das Herz des Säuglings begann doch noch zu schlagen. Er überlebte.

Doch das Gehirn des Neugeborenen, das während fast einer halben Stunde keinen Sauerstoff erhalten hatte, ist stark beschädigt. Der Bub ist auch körperlich schwerbehindert: Er wird nie gehen können, seine Wirbelsäule muss permanent gestützt werden.

Die Eltern reichten Klage gegen das Spital ein. Ihnen geht es in erster Linie um finanziellen Schadenersatz - um Geld, mit dem sie für ihr schwerbehindertes Kind sorgen können.

Das Gericht in Nîmes musste aber vor allem darüber entscheiden, ob Wiederbelebungsmaßnahmen auch zu weit gehen können. Und es bejahte die Frage. Laut dem Urteilsspruch untersagt ein französisches Gesetz aus dem Jahr 2005 jeden "therapeutischen Übereifer" .

Dieser Ausdruck stützt sich auf den medizinischen Verhaltenskodex der französischen Ärzte: Sie müssen zwar jede erdenkliche Hilfe leisten, aber auch jedes "unvernünftige Beharren" in der Forschung und Therapierung vermeiden. Konkret meint das Gericht, die Ärzte hätten die "klar absehbaren Folgen für das Kind" - gemeint sind jene, die eben durch den Sauerstoffmangel auftraten - zu wenig beachtet.

Angst vor umgekehrten Klagen

Das Urteil gibt in französischen Ärztekreisen viel zu reden. Philippe Hubert, Chef des Reanimationsdienstes im Pariser Spital Necker, verteidigte im Figaro die Wiederbelebung - sonst gebe es umgekehrt Gerichtsklagen wegen fahrlässiger Tötung. Ein genaues Kriterium, ab welchem Zeitpunkt auf Herzmassagen und Ähnliches zu verzichten sei, gebe es nicht. Auch die Regel, dass drei Minuten ohne Sauerstoff schwere Hirnschädigungen bewirkten, sei nicht allgemeingültig. Die Entscheidung, von einem Patienten endgültig abzulassen, müsse, wenn möglich, durch ein ganzes Ärzteteam gefällt werden, meinte Hubert.

Das Krankenhaus in Orange hat gegen das Urteil keine Berufung eingelegt. Ein Gutachten muss nun die Höhe des Schadenersatzes festlegen. Die Eltern verlangen 500.000 Euro. (Stefan Brändle, DER STANDARD - Printausgabe, 13. November 2009)