Romane - gerade auch solche, die man ihres schieren Umfangs wegen als "dickleibig" zu bezeichnen pflegt - sind häufig der Niederschlag einer Suchbewegung. 2666 lautet der kryptische Titel von Roberto Bolaños Schwanengesang. Zu sagen, wovon dieses Buch des aus Chile gebürtigen Romanciers (1953-2003) handelt, hieße, ein feinmaschiges Gewebe so aufzutrennen, dass man es irreparabel zerstört.

Das Bild vom zerschlissenen Kleid drängt sich nicht grundlos auf. Den Kern dieses merkwürdig sterilen Buchs bildet paradoxerweise eine Mordserie unerträglichen Ausmaßes. In der nordmexikanischen Grenzstadt Santa Teresa, deren fiktive Ausdehnung mit derjenigen des realen Ortes Ciudad Juárez zusammenfällt, werden zur Mitte der 1990er-Jahre 108 Frauen bestialisch ermordet.

In der überwiegenden Mehrzahl handelt es sich bei den Mordopfern um junge Arbeiterinnen, deren zerstochene und vielfach geschändete Körper auf Mülldeponien landen oder auf Brachen verwesen. Die Kleider der anonym Vorgefundenen sind aufgetrennt - sofern man sie den Frauen nach vollbrachter Untat nicht wieder übergezogen hat.

Man muss Santa Teresa, dieses schmucklose Siedlungskonglomerat mit seinen Billiglohnfabriken, das von der Wüste wie von einer "Eisenfaust umschlossen" gehalten wird, als Filiale der Hölle ansehen: eine Unterwelt in Blicknähe des Gelobten Landes, der USA.

Am Rande des Chaos

Wer nun auf die verstörend protokollarische Verzeichnung dieser Opfer des Wahnsinns stößt, ist selbst schon ein Gestrandeter. Denn jener Teil von 2666, der den Zerfall der Welt am Rande der Zivilisation als mysteriöses Chaos vorführt, bildet bereits in sich einen abgeschlossenen Roman: Es ist der vierte von insgesamt fünf.

Alle zusammen machen sie jenes übersummative Ganze aus, für das die Code-Zahl 2666 wie ein Menetekel einsteht. Das verlaufende Band der Erzählung zeigt, wie zahlreiche wiederkehrende Motive auf hochingeniöse Weise miteinander verflochten sind. Man könnte auf Scherben, auf Motivpartikel verweisen, auf das Verdämmern von Figuren im Nebel - und sähe doch immer nur einer gefräßigen Literaturmaschine beim Mahlen und Schroten zu.

Da ist erstens der Wahnsinn: Er ist keine Domäne der Gewaltverbrecher, sondern die Lieblingsdisziplin aller gewerbsmäßigen Puzzlespieler.

Demgemäß eröffnet Bolaño sein Panoptikum mit einer Satire auf den Literaturbetrieb. Ein mysteriöser deutscher Nachkriegsautor namens Benno von Archimboldi ruft die internationale Gemeinschaft der Dechiffrierer und Deutungskünstler auf den Plan. Germanisten aus Frankreich, Spanien, Italien und Großbritannien plagen sich an der Hinterlassenschaft eines bereits zu Lebzeiten Verschollenen ab, der sich hinter seinem Werk wie unbemerkt in Luft aufzulösen droht.

Zwar wird Archimboldi als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt, die Pointe des Professorenromans (Der Teil der Kritiker) steckt aber in der spöttischen Ausbreitung ebenso privilegierter wie nutzloser Lebensvollzüge. Eine Kleingruppe von Bedeutungshubern hetzt atemlos von Konferenz zu Konferenz. Germanisten versuchen, einander die Objekte ihrer obsessiven Begierden wechselweise abspenstig zu machen, was zu allerhand erotischen Verstrickungen führt.

Die Spur eines Riesen

Nimmt es da noch wunder zu erfahren, dass die Spur des "deutschen Riesen" Archimboldi ausgerechnet nach Santa Teresa im mexikanischen Bundesstaat Sonora führt? Was aber könnte der greise deutsche Dichter mit der Endemie der Frauenmorde zu schaffen haben? Es scheint ganz so, als ob Roberto Bolaño gerne seinerseits eine ganze Heerschar von Dechiffrierkünstlern zur Hebung der von ihm vergrabenen Deutungsschätze aufgeboten gewusst hätte.

Da ist zweitens das Motiv des Verschwindens: Nicht nur Archimboldi ist eine Figur am Rande ihrer Verdunstung. Auch die Geltung der Vernunft - dieses fein polierten Werkzeugs aus der Wunderkammer der Aufklärung - wird sukzessive außer Kraft gesetzt: verschoben, angekränkelt, auf mutwillige Art und Weise zerstört.

Es kommt, wie es in dieser Welt aus splitterndem Glas scheinbar kommen muss: Figuren, die soeben noch im teuflischen Bannkreis Santa Teresas gestrandet waren, machen sich unbemerkt aus dem Staub. Verlieren den Verstand, emigrieren in die Randzonen der Zurechnungsfähigkeit.

Ein Philosophielehrer wird von seiner Frau verlassen. Letztere wird wiederum von der fixen Idee geplagt, sich einem Dichter anschließen zu müssen, der ausgerechnet in einer spanischen Nervenheilanstalt Zuflucht gefunden hat.

Aber auch Amalfitano - so der Name des Philosophen - gerät an den Rand des Überschnappens: Er hängt das mathematische Lehrbuch eines galicischen Autors auf die Wäscheleine, um seinem "Readymade" fortan beim Verrotten im Garten zuzusehen. Seine beinah erwachsene Tochter stolpert derweil hinüber in die Nachtbezirke des Grauens - dorthin also, wo Bolaños saubere, allezeit beherrschte Sprache sich in vagen Andeutungen über die Zusammenhänge von Drogenhandel, Prostitution und Missbrauch ergeht.

Alles hängt hier mit allem auf suggestive, aber schwer belegbare Weise zusammen. Es geht einem bei fortlaufender Lektüre wie dem Leser von Edgar Allen Poes berühmter Erzählung Der entwendete Brief: Man meint, irgendwann mit der Nase auf des Rätsels Lösung gestoßen zu werden. Die Wahrheit aber dürfte spröder klingen: Anstatt aufzuklären, löscht der Dichter lieber aus. Überschreibt Motive oder zerbröselt sie zu Staub. Pustet die Miasmen in die Luft - und sei es nur, um ein Klima der Bedrohung zu erzeugen.

Wollte man daher eine Poetik aus dieser monumentalen Schnitzeljagd extrahieren, so müsste sie wie folgt lauten: Die Weltverhältnisse sind absehbar aus den Fugen. Aber anstatt sich am Grauen zu weiden, selbsttätig in die Hölle hinabzusteigen und ihre Schrecken genüsslich auszumalen, wählt Bolaño eine - auf ihre Weise - grandiose Ausweichbewegung.

Er legt ein fein verästeltes Netz von Verweisen und Bezügen über eine nicht zu retuschierende Leere. Er erzählt in diszipliniert aneinandergereihten Satzketten vom Verhängnis, das man sich wahlweise als das Verschwinden Gottes aus der Welt oder als Webarbeit im Geist der berühmten Penelope vorstellen mag. Odysseus' Gemahlin verstand es bekanntlich, die drohende Vermählung mit einem ihrer Freier hinauszuschieben, indem sie das tagsüber Gewobene zur Nachtzeit wieder auftrennte ...

Da ist drittens die Vergegenwärtigung des NS-Grauens: Hat man die ersten vier Roman-Romane glücklich absolviert, bekommt man die Geschichte des ominösen Romanautors Benno von Archimboldi gleichsam unverlangt nachgereicht.

Man wird zwar nicht unbedingt klüger aus dieser Lebensgeschichte eines aus Preußen stammenden Außenseiters, dem das Gottesgeschenk der Inspiration gleichsam aus dem Nichts zufällt. Aber man ahnt, dass die Ansteckung durch den Wahnsinn ihren Ausgang in jenem Kulturbruch genommen hat, den man sehr verkürzend mit den Titeln "Massenmord" und "totaler Krieg" zu überschreiben hätte. Darüber lernt man zu verschmerzen, dass weite Passagen dieses fünften und letzten Abschnitts das anrüchig-kitschige Odeur des gehobenen Landserromans verströmen: in den Karpaten, am Dnjepr, im zerbombten Nachkriegsdeutschland, in den Nervenkliniken und in den Luxushotels. Man fühlt sich stellenweise an Thor Kunkel oder Jonathan Littell erinnert - ein Vergleich, der vor allem mit Blick auf Die Wohlgesinnten nicht immer zu Bolaños Gunsten ausgeht.

Das viel zu kurze Leben des Autors Roberto Bolaño zwischen Chile, Mexiko und Spanien scheint von jener Unruhe gekennzeichnet gewesen zu sein, die 2666, sein Opus summum, als monumentales Prosagebirge am Vibrieren hält. In Anerkennung der Leistung ist man versucht zu rufen: Chapeau!

Doch darf die natürliche Scheu vor einer Anstrengung, die das Werk buchstäblich dem herannahenden Tod abrang, nicht dazu verleiten, ein überambitioniertes Buch allein deshalb schon zum Geniestreich zu erklären, weil es unter widrigsten Umständen zustande kam. (Roberto Bolaño wartete bis zur letzten Stunde auf eine lebensrettende Lebertransplantation.)

2666 ist ein manchmal schwindelerregender Roman, der in der Wüste des Unheils nistet, der von der Hitze der Sünde handelt und doch merkwürdig schockgefroren daherkommt. In das Lob für Christian Hansens flüssige Übersetzung muss man daher einen Schierlingstropfen mengen, der ganz gewiss der spanischen Vorlage gilt: Bolaño bevorzugt eine geglättete Syntax, die sich die beschriebenen Dinge - alle die Brachen und Siedlungsräume, die Täter und Opfer, die Bullen und Dealer, die Reporter und Dichter, die Verleger und die Verlegten - in gleicher Weise vom kühl temperierten Leib hält.

Durch diese Unnahbarkeit entsteht aber auch eine Kluft, die den Leser von den Bezirken des Wahnsinns - immer gesetzt den Fall, es wäre dem Autor überhaupt um eine Verzeichnung der modernen Psychopathologie gegangen - entfremdet und ihn eifersüchtig ausgrenzt.

Der Verdacht aber, man könnte es in 2666 mit einem Stück prosaischer Programmmusik zu tun haben, mit einer ehrgeizigen Entfaltung psychoanalytischer Thesen, wird durch ein entsprechendes Motiv genährt, das wiederholt durch diese Schwarte irrlichtert: Bezieher eines Hotelzimmers in der schauderhaften Metropole Santa Teresa gewahren ein merkwürdiges Detail der Inneneinrichtung: Zwei Spiegel stehen im Zimmer. Von einer bestimmten Stelle aus betrachtet, gewahrt der Hotelgast jenes seltene Phänomen der Unendlichkeit, das in der Idee der wechselseitigen Reflexion seine Entsprechung findet: "... so spiegelte sich in den Spiegeln das Bild des jeweils anderen."

Wer hier aber was spiegelt, bliebe einem seltsam egal.

(Ronald Pohl, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 14./15.11.2009)

 

 

Roberto Bolaño, "2666" . Roman. Aus dem Spanischen von Christian Hansen. € 30,80 / 1084 Seiten. Carl-Hanser-Verlag, München 2009

 


Der chilenische Autor Roberto Bolaño arbeitete bis zuletzt an seinem Opus summum "2666" , einer monumentalen Erkundung der Randbezirke von Wahnsinn und Verdorbenheit in fünf Romanen.Foto: Hanser